Landeshauptstadt: Von 13 Schüssen niedergestreckt
Erinnerung an Lothar Weber – er wurde ein Jahr nach dem Volksaufstand vom 17. Juni 1953 erschossen
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Erinnerung an Lothar Weber – er wurde ein Jahr nach dem Volksaufstand vom 17. Juni 1953 erschossen Von 13 Einschüssen getroffen, sank Lothar Weber in der Nacht des 17. Juni 1954 vor dem Tor der Jägerkaserne in der Jägerallee zusammen. Mit einer MP-Salve machte ein sowjetischer Wachtposten dem Leben des 23-jährigen Studenten, der zuvor mit Kommilitonen eine bestandene Prüfung gefeiert hatte, ein jähes Ende. Egon Breetz teilte mit dem symphatischen, immer zu Späßen aufgelegten „Lotschek“ seit 1952 eine Studentenbude in der Charlottenstraße 116. Er kannte ihn bereits von der Kyritzer Jahnschule, wo beide das Abitur abgelegt hatten. Egon hatte am 17. Juni seine Mutter vom Berliner Ostbahnhof abgeholt und war mit ihr in die heimatliche Prignitz gefahren. Deshalb fehlte er auf der Feier, die in der Bahnhofsgaststätte am Wildpark begann und mit einem „letzen Schluck“ in einer Kellerkneipe in der Gregor-Mendel-Straße endete. Danach blieb Lothar Weber zurück. Mitstudent Horst Röpke erinnert sich, dass die lustige Truppe das Fehlen Lotscheks mit „Der musste mal hinter einen Baum“ kommentierte. Zwei Uhr morgens wird Egon Breetz in seiner Heimatstadt Neustadt (Dosse) aus dem Bett geklingelt. Zwei Kriminalpolizisten erklären ihm, es ginge um seinen Freund Lothar Weber aus Gumtow. Breetz wird über dessen Gewohnheiten ausgefragt. Er überlegt: Hat Lothar jemanden beleidigt, hat er politische Lieder gesungen? Hartnäckig fragt er, was sein Freund angestellt haben soll. Egon wird ins Nebenzimmer geschickt. Die Kriminalpolizisten beraten fünf Minuten, dann eröffnen sie ihm: „Ihr Freund ist tot.“ Nichts weiter. Dann geht es in rasender Fahrt nach Potsdam ins Polizeipräsidium. Neue Vernehmungen. Endlich erfährt Egon Breetz: Lothar sei in das sowjetische Kasernengelände an der Jägerallee eingedrungen und dort von einem Wachposten erschossen worden. Er habe noch gelebt, nachdem ihn die Kugeln trafen. Im sowjetischen Lazarett sei versucht worden, ihn zu retten und zum Reden zu bringen. Doch am 18. Juni, früh 2 Uhr, erlosch sein Leben. Früh sieben Uhr werden auch Horst Röpke und die anderen an der Feier beteiligten Studenten geweckt und ins Präsidium gebracht. Schnell einigen sie sich im Flur, Lothar Weber für den Vorabend Volltrunkenheit zu attestieren, damit er bei einer Bestrafung glimpflicher davonkommt. Nachdem sie die schreckliche Wahrheit erfahren haben, verlassen sie völlig benommen das Gebäude. Inzwischen sind Lothars Eltern, die in Gumtow eine Sattlerei betreiben, nach Potsdam geholt worden. Mit Egon Breetz werden sie in die Leichenhalle auf dem Neuen Friedhof gefahren, um den Toten zu identifizieren. Der Anblick ist erschreckend. Offensichtlich hat der Schütze die Maschinenpistole hochgezogen, so dass auch Lothars Gesicht durch drei entstellende Einschüsse gezeichnet ist. „Diese Prüfung hätte man den Eltern ersparen sollen“, sagt Breetz noch heute. Er entschließt sich zu einem mutigen Schritt. Mit den leidgebeugten Webers, die ihren einzigen Sohn verloren haben, geht er zur Jägerkaserne und lässt nicht locker, bis der Kommandeur ans Tor kommt. Ein Hofarbeiter übernimmt die Übersetzung. Dem sowjetischen Oberst ist die Unterredung sichtlich unangenehm. Der Student sei unter dem Schlagbaum durchgekrochen und in Richtung Waffendepot gerannt. Der Posten habe vorschriftsmäßig dreimal „Stoi!“ gerufen und erst dann geschossen. Lothars Verletzungen sprechen eine andere Sprache. Der Tote wird in seinen Heimatort Gumtow übergeführt und auf dem Dorffriedhof bestattet. Sein Vater, nun um die 90, lebt noch und pflegt mit der Adoptivtochter, die von der Familie später angenommen wurde, das Grab. Für Horst Röpke und Egon Breetz hat die lange Zeitspanne seit dem Tode ihres Freundes die Frage nach dem Warum nicht verstummen lassen. Hat er in seinem bierseligen Zustand den Schlagbaum mit einer Straßenabsperrung verwechselt? Glaubte er, an seinem Wohnhaus angelangt zu sein, wo damals wegen Straßenbauarbeiten ebenfalls eine Sperre stand? Horst Röpke weist darauf hin, dass die panische Angst vor einem neuen Volksaufstand die Regierenden veranlasste, jährlich zum 17. Juni für die Sowjet- und die DDR-Armee „erhöhe Gefechtsbereitschaft“ auszurufen. Dies dürfte der Hauptgrund für die brutale Aktion des Wachpostens gewesen sein. Egon Breetz und Horst Röpke sind nach ihrem Studienabschluss an der Pädagogischen Hochschule Potsdam beruflich erfolgreich gewesen. Beide haben promoviert. Röpke hat im Institut für Schulfunk und Schulfernsehen moderne audiovisuelle Lehrmittel auf den Weg gebracht, Breetz Karten für den Geographieunterricht entwickelt. Lothar Weber haben sie darüber nicht vergessen. In der DDR-Zeit zum Schweigen genötigt, ehren sie ihren erschossenen Freund nun jedes Jahr am 17. Juni gemeinsam mit anderen früheren Kommilitonen am Tor der Jägerkaserne durch Blumen und eine Gedenkminute. Das wird auch diesmal, am 50. Jahrestag des tragischen Ereignisses, so sein. Heute um 17 Uhr treffen sie sich am Café Heider und gehen dann zum Ort der Erschießung.
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