Landeshauptstadt: „Von früh bis abends Olympia“
Trotz großartiger Erfolge ist Potsdam nicht so richtig im Olympiafieber, aber es gibt die Fans, die sich nichts entgehen lassen wollen
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Gestern war Christiane Eschert ruhiger. Am Mittwoch, beim Olympiasieg des Potsdamers Sebastian Brendel im Einer-Kajak, ist sie vor lauter Aufregung noch aus dem Zimmer gerannt – und Ehemann Jürgen musste die Zwischenstände des Rennens in den Flur rufen. Die beiden gestrigen Londoner Gold-Rennen im Zweier-Canadier, bei denen mit Kurt Kuschela, Peter Kretschmer und Franziska Weber gleich drei Potsdamer Olympia-Gold holten, verfolgten sie gemeinsam vor dem Fernseher. Für Eschert, der Ehrenvorsitzender des Kanu-Fördervereins und damit ein echter Insider ist, kam dieser Gold-Regen nicht überraschend. „Diese jungen Potsdamer Kanuten haben bereits in der Vorbereitung gezeigt, dass sie Medaillenanwärter sein würden – aber natürlich bin ich überglücklich über diese Erfolge.“ Zugegeben hat Eschert allerdings, dass er sich über das Gold von Brendel besonders gefreut hat: 48 Jahre nach seinem eigenen Goldrennen von Tokio gab es endlich wieder einen Olympia-Triumph in dieser Disziplin für Deutschland.
Da die Londoner Kajak-Finals am Vormittag ausgetragen wurden, hatten nicht alle Interessierten die Chance, die Rennen live zu verfolgen. Oberbürgermeister Jann Jakobs, der den Triumph von Brendel am Mittwoch in seinem Büro verfolgen konnte, war bei den gestrigen Finals dienstlich unterwegs. Natürlich versäumte er es nicht, zu gratulieren. „Mich macht sehr stolz, dass Sie als Sportler des KC Potsdam maßgeblich zu der sehr guten Olympia-Bilanz der Kanurennsportler beitragen“, übermittelte Jakobs via E-Mail Franziska Weber, Peter Kretschmer und Kurt Kuschela. Linke-Fraktionschef Hans-Jürgen Scharfenberg nimmt zurzeit an einer Klausurtagung seiner Partei teil und konnte daher ebenfalls nicht zur Vormittagszeit vor dem Fernseher sitzen. Auch er gratulierte den Potsdamer Goldgewinnern und versprach: „Natürlich sehe ich mir die Rennen in der Aufzeichnung an. In den Reigen der Gratulanten reihte sich natürlich auch Ministerpräsident Matthias Platzeck ein. Nach dem erneuten Medaillengewinn von Athleten des Kanuclubs (KC) Potsdam sei Potsdam „auf dem besten Weg zur internationalen Hauptstadt des Kanurennsports“, sagte Platzeck.
Die Potsdamer selber waren am gestrigen Medaillen-Tag nicht so richtig im Olympiafieber. Während der PNN–Straßenumfrage bekundeten zwar viele ihr Interesse für die Olympischen Spiele, kannten sich aber wenig mit Sportarten und Medaillengewinnern aus. So rauschten auch die drei Goldmedaillen für die Potsdamer Kanuten an vielen vorbei. „Ich habe das gar nicht mitbekommen. Ich interessiere mich eigentlich nur für Volleyball und Leichathletik“, sagte Schülerin Paula Männecke.
„Die Leute schauen eher nur am Rande hin“, sagt Ulrike Bruns, Inhaberin eines Sportartikelladens in der Lindenstraße. „Nach den Misserfolgen der deutschen Mannschaft an den ersten Tagen interessieren sich viele nicht mehr für die Spiele.“ Bruns war einst eine erfolgreiche deutsche Läuferin. Hinter der Ladenkasse kündet ein gerahmtes Plakat von ihren Sporterfolgen, unter anderem Bronze bei Olympia 1976. Gegenüber hängt ein kleiner Fernseher an der Wand. „Wir gucken hier von früh bis abends Olympia“, sagt Bruns. Zwar freut sie sich über die bislang vier Potsdamer Gold-Gewinner, ist aber insgesamt enttäuscht über die Nachwuchsarbeit im deutschen Sport. Auch Potsdam habe deutlich nachgelassen: „Früher hatte die Stadt noch viel mehr Boote belegt.“
Dass die Spiele trotzdem auf Interesse stoßen, zeigt der Olympia-Fan Christoph Spiekermann. Der Potsdamer schaut täglich das Programm und liebt es, vor allem beim Turnen zuzuschauen. Der Grund dafür ist sein Hobby: Er selbst ist Kunstturner. Dies hänge wohl oftmals zusammen: „Wer selbst eine Sportart ausübt, die auch bei Olympia vertreten ist, der schaut sich diese auch gerne an.“
In der Sportkneipe „Craddock“ läuft zur Zeit den ganzen Tag die Olympiade. Hier können Gäste gemütlich essen und trinken und nebenbei den Sport verfolgen. Und so konnte Kneipier Frank Libbert an seinem Arbeitsplatz den Sieg der Potsdamer Sportler mitverfolgen. Er selbst fährt manchmal bis zu 95 Kilometer Fahrrad am Tag und kann sich aus diesem Grund mit den Leistungen der Sportler identifizieren. „Mir ist klar, was das für eine Quälerei ist.“
Sich quälen und Olympia live verfolgen, das ist am kommenden Samstag beides möglich – bei den 16. Potsdamer Wasserspielen. Dann ist auch Jürgen Eschert nebst Gattin wieder mit dabei, um den Olympischen Gedanken zu pflegen: Dabeisein.
Sonja Radtke, Johannes Keller, Michael Erbach
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