zum Hauptinhalt

Landeshauptstadt: Vor dem Tod

60 Sterbehelfer begleiten kranke Potsdamer in den letzten Lebenswochen. Rita Witzki besucht die Krebspatientin Anneliese M . schon seit mehr als zwei Jahren

Stand:

Ein dünner Plastikschlauch begrenzt Anneliese M.s Leben. Er endet in ihrem Gesicht. Wo er beginnt ist nicht zu sehen. Er hängt aus Anneliese M.s Nase, baumelt in der Mitte ihres Körpers bis er auf den Teppich trifft, läuft dann die Treppenstufen entlang, die aus dem Wohnzimmer in die erste Etage führen. „Nach oben ins Schlafzimmer – da steht mein Sauerstoffapparat.“ Der Schlauch reicht so weit, dass sie sich im Haus bewegen kann, sie kann sogar auf die Terrasse damit treten.

Anneliese M. spricht leise und langsam. Sie hält mit ihrem Atem Haus. Sie wartet auf den Tod. „Wenn ich morgens aufwache, denke ich jedes Mal: Mensch, du lebst ja immer noch!“ Sie hat eine Lungenkrankheit und Knochenkrebs. Ihr dünner 68-jähriger Körper ist vornüber gebeugt. Sie kann nur noch Brei essen. Ihr Kiefer ist von der Chemotherapie zerstört. 15 Tabletten muss sie täglich nehmen, jeden morgen kommt eine Schwester vorbei und gibt ihr eine Spritze. Ihr Körper soll betäubt werden. Er bereite ihr nur noch Schmerzen. Sie lassen keinen Raum für das Leben. Anneliese M. ist depressiv.

Wann sie das letzte Mal gelacht hat, weiß sie nicht. Manchmal geht es ihr aber besser. Einmal in der Woche besucht Rita Witzki vom ambulanten Hospizdienst die Kranke. Rita Witzki ist eine von 60 ehrenamtlichen Sterbehelferinnen und -helfern in Potsdam. Mit ihr spricht Anneliese M. über Kochrezepte, über Handarbeit. Manchmal fordert Rita Witzki sie auf, von früher zu erzählen, vom großen Garten, in dem sie Tomaten und Gurken angepflanzt hatte. „Dann merke ich, dass sie damals zufrieden und ausgefüllt war“, sagt Witzki. Ein bisschen von dieser Zufriedenheit gelangt dann für einen kurzen Moment ins Jetzt.

Aber meistens spricht Anneliese M. davon, dass sie ihren Kindern nicht mehr zur Last fallen will. Sie hat drei erwachsene Söhne. Bei einem von ihnen lebt sie, er kauft für sie ein, putzt das Haus.

Lachen hat auch Rita Witzki ihre Patientin noch nie gesehen. Seit zweieinhalb Jahren kennen sich die beiden. Eine Krankenschwester hatte Anneliese M. nach der Chemotherapie angesprochen. „Sie brauchen jemanden zum Sprechen“, habe sie gesagt und ihr dann die Nummer vom ambulanten Hospizdienst gegeben. Aber Rita Witzki redet nicht nur mit Anneliese M., sie hilft beim Schriftverkehr mit dem Amt, der Krankenkasse, dem Friedhof. Anneliese M. will, dass ihre Urne später anonym in einer Friedhofswiese beigesetzt wird.

In einer zehnmonatigen Ausbildung hat Rita Witzki gelernt, welche Ansprüche ein Sterbender hat. Und einmal im Monat redet sie gemeinsam mit ihren Ehrenamtskollegen mit einem Psychologen über die Erlebnisse. „Manchmal belasten sie einen ganz schön“, sagt Witzki. Eigentlich ist die ehemalige Krankensschwester Rentnerin. Aber die heute 66-Jährige wollte nicht nur zu Hause sitzen. Sie wollte weiter Sinnvolles tun. Als sie vom ambulanten Hospizdienst hörte, meldete sie sich als Freiwillige. „Wenn nichts mehr zu machen ist, ist noch viel zu tun“, sagt Rita Witzki. So lautet das Motto des diesjährigen Hospiztages. Die Worte sprächen ihr aus der Seele. „Und am Ende meines Lebens möchte ich auch nicht allein sein.“

Normal sei das nicht, einen Todkranken so lange zu begleiten, sagt Rita Witzki. Meist bleiben ihr mit den Sterbenden nur wenige Wochen. Es helfe den Kranken, dass sie mal mit jemand anderem reden können. Und es helfe den betreuenden Angehörigen, die sich in den zwei Stunden eine kurze Auszeit nehmen können, um Kraft zu Tanken für die Betreuung. Manchmal ist Rita Witzki auch in der letzten Stunde dabei. Sie hat Menschen sterben sehen, die bis zur letzten Sekunde gegen den Tod zu kämpfen schienen.

Viele Potsdamer sterben im Krankenhaus, ein Hospiz gibt es noch nicht in der Stadt. Dabei wäre das wichtig, sagt die Koordinatorin des ambulanten Hospizdienstes, Heike Borchardt. Vor allem für jene, die keine Angehörigen haben, die sie pflegen können. In Krankenhäusern richte sich der Alltag der Sterbenden nach dem Tagesablauf der Station: um 6 oder 7 Uhr Visite, danach Frühstück, Mittag – egal ob der Kranke müde ist oder vielleicht gar nicht essen möchte. In einem Hospiz dagegen, kann der Sterbende selbst über seine letzten Tage bestimmen. Er liegt in einem Einzelzimmer, wird nicht durch andere Kranke gestört.

Die ambulanten Sterbehelfer halten aber auch in den Krankenhäusern Sitzwachen, wenn das Leben eines Patienten zu Ende geht. Denn dazu fehlt Schwestern und Pflegern die Zeit. In der Stunde des Todes würden die Sterbenden ganz ruhig – „ihre Körper werden ja immer schwächer“, erklärt Heike Borchardt. Trotzdem, sie empfänden meist eine tiefe Trauer darüber, so viel verlassen zu müssen. „Das tut immer weh.“ Gerade den jüngeren. Ältere Menschen seien oft schon lebenssatt, hätten sich viele Träume erfüllt.

1995 stellte der Arzt Anneliese M. die Diagnose Krebs. Sie habe seitdem keinen Moment Hoffnung gehabt, sagt sie. 13 Jahre ist das her. Sie hat sich trotzdem keine letzten Wünsche erfüllt. Dabei wär sie gern einmal mit ihren drei Söhnen verreist. Die Ostsee hätte ja genügt. „Die Schmerzen waren zu groß“, sagt sie.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
console.debug({ userId: "", verifiedBot: "false", botCategory: "" })