WEIMERS Woche: Vorbild Rita
Wolfram Weimer über eine besondere Briefträgerin aus Belzig
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In dieser Woche war ich Frühstücken mit Kardinal Lehmann, dem obersten Katholiken in Deutschland, der so gar nicht oberst, sondern ganz bescheiden im Café erscheint. Wir sprechen über den Verlust an Vorbildern. Er erzählt von Mutter Teresa, und dass selbst sie an Vorbildern zweifelte.
Auf dem Heimweg fahre ich über die Rudolf-Breitscheid-Straße und die Friedrich-Engels-Straße in die Friedrich-Ebert-Straße. Mir fällt auf, dass wir in Potsdamer Straßennamen ziemlich viele Sozialisten als Vorbilder ehren. Biblische Gestalten dagegen gar nicht, ganz selten bundesrepublikanische wie Adenauer oder Brandt oder Kohl.
Ein Wissenschaftler zählte, dass es in Ostdeutschland mehr als 500 Karl-Marx-Straßen gibt, dazu 613 Straßen, die den KPD-Chef Ernst Thälmann feiern, 90 für den stalinistischen Gleichschalter Wilhelm Pieck und sogar 17 zu Ehren Otto Grotewohls, der den Volksaufstand vom 17. Juni 1953 niederschlagen ließ.
Als ich noch überlege, wieso wir dem kommunistischen Kampfschreiber Hans Marchwitza eine ganze Ringstraße widmen, sehe ich in der Johannes-Dieckmann-Allee (der war DDR-Volkskammerpräsident) plötzlich ein vertrautes Gesicht: Bei uns im Stadtviertel arbeitet eine besondere Briefträgerin. Sie sieht aus, als käme sie aus Irland, dabei stammt sie aus Belzig. Ihre Hände sind knallrot vor Kälte, die Augen vom eisigen Fahrtwind glasig. Aber sie lacht. Trotz ihres Alters strampelt sie mit dem schweren, gelben Rad als wolle ein Mädchen rasch an den Badesee. Sie ist ein Ausbund an Freundlichkeit, läuft zu Haustüren, überreicht die Post gerne von Hand zu Hand, scherzt mit Kindern, hilft Älteren, winkt umher und achtet auf jeden Brief, als habe sie ihn selbst geschrieben. Sie pflegt ihre ganz eigene Akkuratesse. Sie will nichts knicken, schützt die Briefe vor Regen und reicht die Post in fahrende Autos. Sie entfaltet – der Kardinal würde sagen – eine große Würde in ihrem kleinen Tun.
Ob Sommerhitze oder Schneematsch quälen, sie klagt nie, entdeckt an allem eine gute Seite. Kein Chef wird sie je sehen und loben können. Darum tue ich es. Sie heißt Rita E., sie ist seit 23 Jahren bei der Post. Und wenn ich bei der Debatte um Postlöhne höre, was sie wohl verdient, dann weiß ich: es ist zu wenig. Für mich ist sie ein Vorbild.
Wolfram Weimer schreibt an dieser Stelle regelmäßig für die PNN. Unser Autor ist Chefredakteur des Magazins „Cicero“ und lebt mit seiner Familie in Potsdam.
Wolfram Weimer
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