
© dapd
Sport: Vorteil Djokovic
Weil die Saison verkürzt wurde, steht der Serbe vorzeitig als Nummer eins fest
Stand:
Roger Federer ist ein Gentleman. Deshalb bekommt er in dieser Woche während des ATP-Tour-Finals in London auch zum achten Mal von Journalisten den „Stefan-Edberg-Sportsmanship- Award“ verliehen. Und ungemein beliebt ist Federer zudem noch, und so wird ihm nun schon zum zehnten Mal auch der so genannte „Fan Favorite“ überreicht, der Preis für den Zuschauerliebling. Eine Trophäe jedoch, die erhält Federer dieses Mal nicht: jenen großen silbernen Henkelpokal für den besten Spieler des Jahres. Aber weil Federer ein Gentleman ist, sagt er, dass Novak Djokovic verdient am Saisonende die Nummer eins sei. „Ich denke, dass es darüber keine Debatte geben sollte“, stellte Federer klar, „man wird nicht durch Glück die Nummer eins. Das Ranking zeigt, wie man über eine Periode von 365 Tagen gespielt hat.“
Zweifellos, Djokovic hat in den letzten zehn Monaten am konstantesten gespielt, daran gibt es nichts zu rütteln. Dennoch muss sich der Serbe in diesen Tagen Diskussionen um seinen Status gefallen lassen. Ob Djokovic tatsächlich der herausragende Spieler der Saison gewesen sei, fragt man sich. Wo doch jeder der besten Vier – Djokovic, Federer, Andy Murray und Rafael Nadal – je ein Grand-Slam-Turnier gewann. Vielleicht liegt es daran, dass im Vergleich zu seinem furiosen Jahr 2011, als Djokovic erst im Halbfinale der French Open seine erste Niederlage kassierte und drei der vier großen Titel gewann, in dieser Saison alles etwas weniger spektakulär wirkt als damals. Oder es hat etwas damit zu tun, dass Federer eben so ungemein beliebt ist und deshalb die gefühlte Nummer Eins zu sein scheint. Auch wenn ihn Djokovic am Montag vom Thron schubste, den er mit Unterbrechungen insgesamt 302 Wochen besetzte – länger als kein anderer Spieler zuvor.
Vielleicht wird Djokovic aber auch deshalb infrage gestellt, weil Federer nach dem Saisonfinale immer noch Weltranglistenerster sein könnte – hätte man diese Saison nicht um zwei Wochen verkürzt. Für leicht verlängerte Ferien wurde der Turnierplan enger zusammengeschoben, und so entstand erstmals der Fall, dass Federers 3000 Punkte für seine letztjährigen Siege in Basel, Paris und London am Montag auf einen Schlag gelöscht wurden. Das Datum, an dem die Turniere im Jahr zuvor stattfanden, gilt jeweils als Stichtag für den Verlust der alten Zähler. Vor Beginn des Tour-Finals werden sonst lediglich die Punkte aus dem Vorjahr gelöscht, um die Weltrangliste dem so genannten „Race“-Ranking anzupassen. Wäre die Saison also nicht verkürzt worden, und Federer hätte in Paris gespielt und seinen Titel verteidigt, beliefe sich sein Rückstand auf Djokovic lediglich auf die 1500 Punkte vom Vorjahressieg in London – und die hätte der Schweizer im Idealfall wieder aufholen können.
So hätte es in dieser Woche einen echten Kampf um den Thron gegeben, nun bleibt es beim Machtgerangel um die gefühlte Vorherrschaft. Denn sollten sich Federer oder Murray mit dem WM-Titel krönen, hätten sie schlagende Argumente dafür, 2012 der beste Spieler gewesen zu sein. Zudem sorgten die beiden in den letzten Monaten für die emotionalsten Momente: Murray mit Gold bei den Olympischen Spielen und seinem ersten Grand-Slam-Triumph bei den US Open, während Federer auf dem Rasen von Wimbledon im Alter von fast 31 Jahren seinen ersten großen Titel nach zweieinhalb Jahren holte und seine Kritiker in tiefe Selbstzweifel stürzte.
Die harten Fakten sind dagegen auf Djokovic’ Seite: Er gewann zwar nur fünf Titel, brachte es jedoch auf 70 Saisonsiege und vor allem heimste er bei den Grand Slams wesentlich mehr Punkte ein als Federer: 5120 zu 3800. Dafür holte Federer aber einen Titel mehr und ist gefühlt für viele einfach der Beste. Sein erstes Gruppenspiel in London gewann der Schweizer am Dienstag gegen den Serben Janko Tipsarevic mit 6:3 und 6:1 – und lieferte dabei eine Leistung ab, die einer Nummer eins absolut würdig gewesen wäre.
- showPaywall:
- false
- isSubscriber:
- false
- isPaid: