Landeshauptstadt: Wandervögel in langen Röcken
Junge Frauen suchen in alter Tradition das romantische Naturerlebnis
Stand:
Junge Frauen suchen in alter Tradition das romantische Naturerlebnis Von Karsten Sawalski „Was ist an Röcken so schlimm?“, fragt Sabrina Schimanke. Die 17-Jährige wundert sich über die vielen Nachfragen zu dem langen Rock, den sie trägt – der ist aus dunklem Stoff und ohne Muster. Für Sabrina ist das ganz normal, es sei nur ein „Erkennungszeichen“ der Wandervogel-Gruppe, sagt sie. Aber auf einen Fremden wirkt allein schon das Äußere der drei jungen Frauen und der zwei Mädchen irgendwie anders, als man es von der jungen Generation erwartet. Die ganze Szenerie wirkt ungewohnt: Die Potsdamer „Wandervögel“ stecken allesamt in knöchellangen, schmucklosen Röcken, sitzen auf bunten Teppichen am Boden um einen kleinen Tisch, sie trinken Tee, kneten Figuren aus Ton, und ab und zu greift Sophie Ahrenstedt (17) zur Gitarre und stimmt das alte Volkslied an: „Bunt sind schon die Wälder ...“. Die Wandervogel-Gruppe in Potsdam trifft sich immer dienstags im „Haus der Jugend“ in der Lindenstraße. Wie lange sie in der Drei-Raum-Wohnung noch bleiben können, wissen sie nicht. Das Haus soll im nächsten Jahr anderweitig genutzt werden, erzählen die Wandervögel. Sabrina, Sophie, Juliane Marg (21), Sophia Klug (10) und Sabrina Dorn (10) brauchen zwar eine feste Adresse, um sich einmal in der Woche zu treffen, aber die Wandervögel sehen ihr Zuhause in der freien Natur: Sie unternehmen mehrtägige Fahrten – in die märkischen Wälder, an die Mecklenburgische Seenplatte oder ins Ausland. Wandern und Zelten sind ihre Leidenschaften. Die Potsdamer Wandervögel haben sich vor einem Jahr gegründet und knüpfen mit ihren Aktivitäten an eine Jugendbewegung an, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts aus einer langweiligen, biederen Gesellschaft ausstieg, um ein selbstbestimmtes Leben auf Wanderungen zu entdecken. Der Gesang und die Pflege des Volksliedes spielten dabei eine wichtige Rolle. Auch heute noch. Wenn es um Pop-Idole wie Britney Spears oder Eminem geht, verzieht Sophie das Gesicht zur abfälligen Grimasse: „Nee, das gefällt mir nicht und so was würden wir nicht singen!“. Auch bei den üblichen „Lagerfeuer-Songs“, von Cat Stevens oder den soften Stücken der Rolling Stones, winkt Sophie ab: „Die mag ich nicht, solche Musik hören meine Eltern! Wir spielen nur bündische Musik“. Der „Bündische Liederkanon“ liegt in Form eines dicken Buches auf dem Boden. „Bündisch“ bedeutet, dass dieses Buch vom Wandervogelbund herausgegeben wird. Die Wandervogelbewegung entstand 1897 in Berlin-Steglitz, wo der junge Lehrer Hermann Hoffmann seine Schüler mit den Erzählungen über seine Ausflüge begeisterte. „Wandervogel zu sein, ist eine Lebenseinstellung“, erklärt Sophie, „es geht darum, Abenteuer in der Natur zu erleben, in Deutschland oder auch im Ausland – und natürlich pflegen wir auch die Tradition“. Die Potsdamer Gruppe lebt ihre Vorstellung von „romantischen Naturerlebnissen“ völlig unabhängig vom Wandervogelbund aus. Seit dem Beginn der Jugendbewegung haben sich unzählige Bünde und Jungenschaften gebildet. Die Potsdamer haben mit denen nichts weiter zu tun, außer, dass man sich ab und zu bei Festen trifft. Ihren Treffpunkt in der Lindenstraße teilen sich die Mädchen mit einem reinen Jungenbund. „Da durften wir ja nicht eintreten und deshalb haben wir unsere eigene Gruppe mit eigenem Stil“, sagt Sophie. Wie sich die Zeiten ändern. Die Initiative, eine Wandervogel-Gruppe zu gründen, sei nicht von ihren Eltern gekommen, sagt Sophie – im Gegenteil: „Die haben eher Angst, dass wir dadurch dieSchule vernachlässigen“. Die Skepsis der Eltern ist unbegründet, denn bei den Hausaufgaben helfen sie sich gegenseitig, die älteren Wandervögel den jüngeren. Außerdem interessieren sie sich für Vergangenes, was im Unterricht ja sehr nützlich sein kann. Beispielsweise begeistert sie der romantische Dichter Johann Gaudenz von Salis-Seewis, der mit dem Text „Bunt sind schon die Wälder“ die Sehnsucht nach einem „schönen Naturerlebnis“ bei den Wandervögeln weckt. Realitätsfern wirkt Sophie nicht. Die 17-Jährige verschließt sich nicht gegenüber der modernen Welt. Sophie gibt zu, dass auch sie manche Pop-Songs gerne hört. Die Idee der Wandervögel sind für sie eine Alternative, nach dem Sinn des Lebens zu suchen. Das Gruppenleben hat viel mit Verantwortung und Selbstständigkeit zu tun. Die jungen Leute organisieren die Fahrten allein und die jüngeren Mädchen stehen unter der Obhut der älteren. Es ist eine Wiederbelebung alter Tugenden: „Die ersten Wandervögel suchten die Romantik, um aus dem gesellschaftlichen Trott zu fliehen“, erklärt Sophie, „heute ist es im Prinzip dasselbe, wir wollen weg vom Konsum und zurück zu einfachen Werten, wie Verantwortung, Zuverlässigkeit und Naturverbundenheit“. Deshalb die langen Röcke. Sie vermitteln ihnen das Gefühl, ihrer Wunschwelt näher zu sein und den Wandervögeln anzugehören. Die Röcke tragen sie auch in der Schule. „Ab und zu kommt mal ein dummer Spruch von den Mitschülern, aber es gibt auch positive Bemerkungen“, sagt die 17-jährige Sabrina. Ein rückwärts gewandtes Symbol sei der Wandervogel-Rock schon, aber nicht mit dem negativen, frauenfeindlichen Hintergrund, wie das Kopftuch, finden die Mädchen. Vielmehr tragen sie die selbst genähten Röcke gegen das in Mode gekommene Zurschaustellen junger Frauen. Die Wandervögel werden oft falsch verstanden. Neulich, als sie mit ihrer Klasse den Kinofilm „Der Untergang“ sah, horchten die Mitschüler auf, als Sophie frei heraus erzählte, dass sie diese alten Volkslieder kennt, die Magda Goebbels mit ihren Kindern im Führerbunker singt. „Die sahen mich sehr verwundert an und einige stellten mich wohl gleich in die rechte Ecke“, erzählt Sophie. Damit hat und hatte die Wandervogel-Bewegung nie etwas zu tun, im Gegenteil: Die Nationalsozialisten gingen sogar gewaltsam gegen die bündische Jugend vor. Aber die Wandervögel machten illegal weiter und einige jugendliche Widerstandskämpfer, wie die „Edelweißpiraten“, schlossen sich ihnen an. „Wir sind interkonfessionell, sind frei vom Staat und frei von jeglichen politischen Ideen“, erklärt Sophie. Um die eigene Unabhängigkeit auch finanziell zu gewährleisten, jobben die Wandervögel an den Wochenenden und in den Ferien. „Wir haben schon in der Brandenburger Straße gesungen, machen Gartenarbeiten für Bekannte“, sagt die 17-jährige Sabrina. Für die Fahrten brauchen sie nicht allzu viel Geld, denn unterwegs, vor allem im Ausland, haben die Potsdamerinnen die Erfahrung gemacht: „Die Menschen sind hilfsbereit“. Auch bei jungen Frauen, die keine kurzen Röcke tragen.
Karsten Sawalski
- Britney Spears
- Jugend
- Lehrer
- Mecklenburgische Seenplatte
- Schule
- Schule und Kita in Potsdam
- The Rolling Stones
- showPaywall:
- false
- isSubscriber:
- false
- isPaid: