Landeshauptstadt: Wasserhahn hat Hühnersex
Weitaus besser als Fernsehen: 30 Vorleser gestern Abend im Malteser Treffpunkt Freizeit – zum bundesweiten Vorlesetag
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Illsebill salzte nach. Mit diesem Satz beginnt dieser Text, weil gut geklaut besser ist als schlecht erfunden. Die Stiftung Lesen hat diesen Satz zum besten deutschen Buchanfang gekürt, es ist der Anfang des Romans „Der Butt“ von Günter Grass, wie André Martin, Leiter des Malteser Treffpunkt Freizeit gestern zur Auflockerung erklärte. Martin eröffnete den Vorlese-Tag im Treffpunkt, bei dem 30 Vorleser eigene Texte und die von anderen vortrugen. Deutschlandweit griffen gestern über 7000 Vorleser zu Büchern oder Manuskripten.
Die Schrifttstellerin Ilse Grabner beginnt ihre Lesung auch mit einem Satz, der nicht von ihr ist – fürwahr: „Den Sozialismus in seinem Lauf hält weder Ochs noch Esel auf.“ Sie beschreibt in ihrer Biografie „Jahrgang 42“ ihren persönlichen Mauerfall, vier Wochen vor dem am 9. November 1989. Mit anderen demonstriert sie auf dem Luisenplatz. Sie tragen Astern als Zeichen des gegenseitigen Erkennens und rechnen jeden Moment mit dem Einprügeln durch die vielen Männer in den auffällig unauffälligen Anoraks, die sie umkreisen. Mit Bedacht singen sie sozialistische Lieder – „Brüder zur Sonne“, „Wacht auf, Verdammte dieser Erde“, die „Internationale“. Vielleicht stimmt es die Stasi-Leute milder? Und tatsächlich, es geschieht nichts. Als sie gehen, treten sie „mit jedem Schritt die Angst unter unseren Füßen nieder“. Sie erringen Freiheit.
Szenenwechsel, zur Kinderliteratur: Die achtjährige Marilen Martin hat Lampenfieber, noch schnell hascht sie ein ermunterndes Lächeln ihres Vaters, dann liest sie los, aus „Jana und der kleine Stern“. Ein Stern lehnt sich zu weit aus dem Fenster, fällt herunter und wenn er nicht rechtzeitig wieder am dunklen Himmel ist, erblindet er. Nicht die Meise, nicht der Adler, nicht der Flieger können Jana helfen, den Stern wieder nach Hause zu bringen. Am Ende hilft nur – ein Kosmonaut. Als Marilen endlich den erlösenden Beifall hört, fällt ihr auch ein Stern vom Herzen. Gut gemacht.
Carla Heinze liest eine Treppe höher Selbstgeschriebenes. Es klingt zunächst nach Kinderliteratur: Ein Wasserhahn ist neidisch auf den richtigen bunten Hahn im Hof. Die Morgenröte verwandelt ihn also in den richtigen Hahn und an dieser Stelle hätte der Erwachsenen Aufmerksamkeit schnell erlahmen können, wenn nicht Carla Heinze nun recht witzig ihren verwandelten Hahn im Hühnerhof zum ersten Mal das erleben lassen würde, was des Hahnes Daseinszweck ist – Hühnertreten. Den ersten Sex mit dem Wasserhahn quittiert das Huhn Agathe mit den Worten: „Mann, du bist gut Junge!“ Applaus.
Der 13-jährige Fyn Thorge Thomsen zeigt mit seinen Texten, dass er etwas von Humor und Pointen versteht. So schreibt er über Kevin, der vom Bio-Lehrer eine lebendige Katze bekommt, die er zu Hause erforschen soll. Nur sezieren, das ist ihm verboten. Als der Lehrer später seinen Forschungsbericht liest, brüllt er und ist völlig außer sich. Der Pauker liest vor, wie die Katze Haschisch verträgt, wie sie es aushält, aus dem Fenster geworfen zu werden, wie das Fell brennt, malträtiert man es mit einer Zigarette. „Unverantwortlich“, schreit der Lehrer – und Jung-Autor Fyn Thorge Thomsen macht gekonnt eine Pause und setzt dann fort: „ an dieser Stelle fehlt ein Komma!“ Das Vorlesepublikum bedankt sich mit einem herzlichen Lacher. In seinem Text über den G8-Gipfel in Heiligendamm setzt er sich spitz und kritisch mit den übertriebenen Sicherheitsvorkehrungen auseinander. Angesichts des Riesenzauns um das Tagungsgelände „fühlt sich mancher an seine Jugend in der DDR erinnert“ – Fyn Thorge Thomsen, den Namen sehen wir bestimmt wieder – auf einem Buchdeckel.
Überall sind an den Wänden des Malteser Treffpunkt Freizeit kleine Zettel mit geistreichen Zitaten zum Thema Lesen angebracht. Sehr schön ist auch dieses: „Fernsehen bildet. Immer wenn der Fernseher an ist, gehe ich in ein anderes Zimmer und lese“ - Groucho Marx.
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