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Landeshauptstadt: Weil sie weiße Nelken trugen

Der 77-jährige Peter Runge kämpft um angemessene Würdigung seiner ermordeten Mitschüler

Stand:

In den Jahren 1945/46 wurden fast 60 Potsdamer Schüler zwischen 15 und 19 Jahren aus nichtigen Gründen vom Sowjetischen Geheimdienst NKWD verhaftet. Nachweislich 18 wurden zum Tode verurteilt, 14 davon erschossen, vier verstarben während der Haft in Bautzen bzw. Sachsenhausen. Das Schicksal anderer konnte bis heute nicht geklärt werden.

2004 wurde im Einstein-Gymnasium eine Gedenktafel für die ermordeten Schüler Joachim Douglas, Klaus Eylert und Klaus Tauer enthüllt. Weitere Tafeln für diese Opfergruppe stalinistischen Terrors soll es in Potsdamer Schulen jedoch nicht geben. Ende 2002 waren sie von der Stadtverordnetenversammlung aufgefordert worden, die Anbringung zu prüfen. Die Schulkonferenzen sahen aber keine Notwendigkeit dafür. Oberbürgermeister Jann Jakobs erklärte vier Jahre später: „Die eine Gedenktafel im Einstein-Gymnasium gilt als exemplarisch für all diese Ereignisse an Potsdamer Schulen; die Schicksale weiterer Schüler werden mit dieser Gedenktafel ... in ausreichendem Maße gewürdigt.“ Peter Runge nennt das „eine ganz schlimme Beleidigung der Toten“. Der damals 15-Jährige hatte zu jenen Einstein-Schülern gehört, die zur Maidemonstration 1946 aus Opposition gegen die undemokratische Entwicklung in Ostdeutschland weiße statt roter Nelken ansteckten. Er überlebte die sechsmonatige Untersuchungshaft im NKWD-Gefängnis Lindenstraße und anschließend mehr als drei Jahre im sowjetischen Internierungslager Sachsenhausen.

Seit der deutschen Wiedervereinigung setzt sich Peter Runge für eine angemessene Würdigung der ermordeten und verfolgten Potsdamer Schüler ein. Durch seine hartnäckigen Vorstöße und teils polemischen Schreiben hat er die Erinnerung an diese Opfer des Stalinismus zurückgeholt, sich aber in der Stadtverwaltung und bei den Schulleitungen keineswegs einen Freundeskreis aufbauen können. Im Einstein-Gymnasium hätte er sich ein Projekt gewünscht, in dem Schicksal der verhafteten und hingerichteten Schüler weiter nachgegangen wird. Geschehen sei aber nichts, sogar ein für Ende Mai 2006 vorgesehenes Zeitzeugengespräch wurde abgeblasen, nachdem Schulleiter Dieter Born-Frontsberg salopp geäußert hatte, er könne „nicht garantieren, dass mehr als drei Hanseln kommen“.

Was die Gedenktafeln betrifft, hat sich die Beigeordnete Gabriele Fischer auf die Position zurückgezogen, die Stadt dürfe nicht in Schulinhalte eingreifen. Ähnlich argumentiert Edeltraud Volkmann- Block. Die von ihr geleitete städtische Gedenktafelkommission könne nur beratend wirken, die Genehmigung hänge vom Eigentümer ab. Auch die Leiterin des Humboldt-Gymnasiums, Carola Gnadt, bekräftigte ihre Ablehnung einer Gedenktafel. Dies bedeute jedoch nicht, dass man dem Schicksal der ermordeten Schüler, in diesem Fall Hans-Wolfgang Landt, Manfred Löwenstein und Dietrich Marx, gleichgültig gegenüberstehe. Vielmehr hat sich die Zehntklässlerin Elena Lehrke an Peter Runge gewandt und von ihm Auskünfte und Unterlagen zur Aktion „Weiße Nelken“ eingeholt. Sie sind der Ausgangspunkt eines Schulprojekts, das in diesem Jahr verwirklicht werden soll. „An einer Tafel laufen die Schüler vorbei“, meint Schulleiterin Gnadt. „Da halte ich die direkte Beschäftigung mit der Problematik und die Veröffentlichung der Ergebnisse des Projekts auf unserer Homepage, in der Schulchronik und dem Schuljahrbuch für wesentlich wirkungsvoller.“

Dass die jugendlichen Opfer des stalinistischen Terrors in Potsdam der Vergessenheit anheimgegeben werden, hält auch Gedenkstättenlehrerin Catrin Eich für unzutreffend. Die von ihr geleitete Geschichtswerkstatt „Lindenstraße 54“ hat im Vorjahr fast 3000 Schüler aus Potsdam und ganz Brandenburg in seine 102 Projekte einbezogen. Dabei sei die Zeit von 1945 bis 1952, als das Haus NKWD-Gefängnis war, angemessen berücksichtigt worden.

Peter Runge weist auf einen Beschluss der Stadtverordneten vom 6. Oktober 1995 hin, wonach für das Gebäude Lindenstraße 54 „die Integration einer angemessenen Gedenkstätte für die Opfer von über 50 Jahren politischer Gewalt in Deutschland“ festgeschrieben wurde. Wie berichtet, hat das Potsdam-Museum eine qualifiziertere Darstellung der NKWD-Zeit angekündigt. So werden die dazu bisher nur sporadisch gezeigten zwei Zellen in den Rundgang einbezogen und um einen Opferraum ergänzt, in dem das Leiden der Häftlinge erzählt wird. Gut ein Jahrzehnt nach dem Stadtverordnetenbeschluss wurde die Eröffnung nun auf den 21. Februar festgelegt. Dazu die Historikerin Gabriele Schnell: „Auch der neu gestaltete Ausstellungsteil ist nur ein Anfang, sagt sie. „Halle, Dresden, Schwerin, Magdeburg, Erfurt sind uns durch mit sechs, sieben Fachkräften ausgestattete Gedenkstätten bei der Aufarbeitung und Darstellung dieses dunklen Kapitels deutscher Geschichte nach wie vor weit voraus. Erhart Hohenstein

Erhart Hohenstein

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