Landeshauptstadt: Wenn das Zusehen schmerzt
Artisten des Chinesischen Nationalcircusses zeigen schier Unglaubliches mit ihren Körpern im Nikolaisaal
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Die kleine Frau im grünen Glanzanzug windet sich am Hals ihres Partners entlang, Sekundenbruchteile später steht sie auf den Schultern des schwarzhaarigen Mannes in bunter Phantasie-Uniform. Ein Ruck und zwei Hände, die die kleinen Füßchen der Chinesin wie Schraubzwingen umpressen, stemmen das Mädchen in die Luft. Der Vergleich mit einer Vogelfeder müsste schon jetzt kommen, doch fehlt der Superlativ für das, was auf die Zuschauer noch wartet: Herzlich willkommen zum Chinesischen Nationalcircus im Nikolaisaal.
Entschwunden ist beim Publikum der graue Alltag, dank der grellbunten, glitzernden Artistenanzüge, vergessen der kleine Ärger um doppelte Platzkarten, weil die beschwingte Musik einen sofort ins Reich der Mitte entführt, verdrängt der Stress, weil die Kunst auf der Bühne einen in Bann verschlägt. Die „Aaahs“ und „Ooohs“ raunen bereits bei der ersten Nummer durch den Saal und gehören bis zum Ende der gut zweistündigen Schau über Marco Polos Chinareise zur ständigen Geräuschkulisse. Wie auch der frenetische Beifall, die Bravo-Rufe und begeisterten Pfiffe für die 20 Chinesen und den deutschen Sprecher Heinrich Rolfing, der in der Rolle des Abenteurers Polo die einzelnen Artistikpunkte miteinander verknüpft und Anekdoten zum Besten gibt.
Das grüngekleidete Mädchen auf den Händen des Untermannes ist starr wie eine Holzpuppe. Ihre Hände schlagen hart und zackig an die Hosennaht. Der Knall ist das Zeichen für ihren Untermann. Katapultgleich schleudert er die Artistin durch die Luft. Ein kleiner grüner Ball wirbelt über die Bühne. Ein Salto, noch ein Salto, eine Schraube. Dann die Landung. Auf den zwei Handtellern ihres Untermannes. Das Ausatmen im Publikum ist kollektiv.
Akrobatik, Artistik, Exotik – drei Schlagworte, die im Grunde nur ungenügend das Spektakel „Marco Polo“ umreißen, dass der Chinesischer Nationalcircus gestern in zwei Vorstellungen im Nikolaisaal präsentierte. Bisweilen gehen die Darbietungen an die Grenze des Vorstellbaren, hin und wieder sogar darüber hinaus. Es ist die Mischung aus Bekannten – der obligatorische Drachentanz mit fluoreszierenden Applikationen statt Feuer – und schier Unbegreiflichem: Zwei Artistinnen balancieren glitzernde Strass-Etageren auf Kopf, Händen und Füßen, eine schwebt über der anderen, lediglich ein blaues Mundstück ist die tragende Verbindung. Zischend atmen Zuschauer die Luft ein, wenn Artistinnen fast gelenklos Arme, Beine, Hüften bewegen, sich verbiegen und verdrehen. Manchmal schmerzt allein das Zusehen.
Derweil hat sich die Flugkünstlerin im Glitzeranzug „verdoppelt“. Zwei grüne „Bälle“ werden durch die Luft geworfen, sie drehen, winden, wenden sich, Salti folgen Pirouetten, ehe die beiden Akrobatinnen wieder auf den Handflächen ihrer männlichen Kollegen landen.
Der Marco Polo in der Show erzählt: „Ein chinesisches Sprichwort besagt: Etwas hundertmal gesagt zu bekommen ist nicht so gut, wie einmal sehen, hören oder riechen.“ Nichts passt besser.
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