Landeshauptstadt: „Wenn einer isst wie Sau, gibt“s “nen Spruch“
Im Kindertreff am Stern wird das gemeinsame Mittagessen zum pädagogischen Universalmittel
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Im Kindertreff am Stern wird das gemeinsame Mittagessen zum pädagogischen Universalmittel Von Nicola Klusemann Das Messer fest umklammert, versucht sich die neunjährige Luisa im Kartoffelschalen-Schlange-Schälen. „Wenn mein Papa das macht, ist die ganze Kartoffel auf einmal geschält“, erzählt sie, während ihre Nachbarin Miriam großzügig dicke Stücke aus dem Erdapfel schneidet. „Ich glaub, ich mach jetzt Hausaufgaben“, verkündet die Zwölfjährige, rutscht vom barhockerhohen Stuhl herunter und verschwindet. Felix und Philip spielen ein bisschen Kicker im Vorraum. „Komme gleich zum Umrühren“, ruft einer der Zehnjährigen durch die halboffene Küchentür. „Wenn die Kinder aus der Schule kommen, haben sie erst mal enormen Bewegungsdrang“, erklärt die Sozialarbeiterin im Kindertreff am Stern, Anne Thierling.Die Küchenhilfe fällt deshalb meist kurz aus, aber bei 20 und mehr Helfern verteilt sich die Arbeit gut. In der Einrichtung des Sozialtherapeutischen Instituts Berlin-Brandenburg geht es mittags zu wie in einer Großfamilie. Die Kinder zwischen neun und 13 Jahren kommen in Grüppchen aus der nahe gelegenen Schule und erzählen den insgesamt drei Betreuern von verpatzten Test und doofen Lehrern. Die Mappen werden in Fächer im Flur verstaut und das Thema Schule ist vorerst abgehakt. „Was gibt“s heute zu essen“, fragt Agneta und hebt den Topfdeckel: Würziges Hackfleisch, Kartoffeln und Mohrrüben. Gemixt aus Fantasie und aus dem, was die Potsdamer Tafel spendet. Das Essen ist für die Sternkinder kostenlos. Vor ein paar Jahren hatte man es zunächst mit einem symbolischen Unkostenbeitrag versucht – 30 Pfennige pro Mahlzeit. Wenn ein Kind das Geld vergessen hatte, habe es aus Scham verzichtet und mit ihm gleich ein paar, die aus Solidarität plötzlich keinen Hunger mehr hatten, erzählt Anne Thierling. Da verwundere es auch nicht, dass immer weniger Schülerinnen und Schüler das Angebot der Schulspeisung nutzen. Das billigste Gericht in der Schule am Pappelhain kostet 1,87 Euro, das teuerste 2,10 Euro. Während im Schuljahr 1997/1998 noch fast jeder zweite Schüler in den Bildungseinrichtungen aß, nutzt heute nur noch ein Viertel der Schülerschaft die Schulspeisung. „Unsere Kinder eint, dass sie in Familien leben, die wenig Geld haben“, sagt der Leiter des Kindertreffs, Tobias Klein. Man wolle das Thema „enttabuisieren“, die Kids sollen darüber reden und bei gemeinsamen Einkäufen lernen, mit dem Wenigen, dass sie haben, auszukommen. Projekt- und Spendengelder machten dieses Training möglich. Für viele der Kindertreff-Besucher sei das Mittagessen oftmals die erste richtige Mahlzeit am Tag. Und seit Hartz IV, sei der Bedarf spürbar gestiegen, so Tobias Klein. „Dem Hungertod ist hier zwar keiner nah“, sagt er. Aber es gebe durchaus dramatische Einzelfälle, in denen die erwerbslosen Eltern ihr Geld lieber für Zigaretten und Alkohol ausgäben, statt für Nahrungsmittel. Um nicht mit knurrendem Magen im Unterricht zu sitzen, kauften sich die Kinder von ein paar Cents Süßes oder was zum Knabbern. Darum achte man darauf, dass viel frisches Obst auf dem Speiseplan des Kindertreffs stehe. „Wir haben auch schon Exotisches eingeführt“, erzählt Anne Thierling. Als sie beispielsweise mal eine Avocado mitbrachte, sei dies ein echtes Geschmacksabenteuer für die „Chips-Flips-Kinder“ gewesen. Auf ihre Lauch-Käse-Suppe fahren die Kids inzwischen auch richtig ab. Fragt man aber, was es geben soll, sei die Antwort natürlich: Nudeln mit Tomatensoße. Das Angebot am Stern ist zurzeit noch einmalig in Potsdam. Etwas ähnliches wird gerade im Treffpunkt Freizeit aufgebaut. In der Einrichtung Am Neuen Garten sollen die kleinen Köche lernen, dass gesund auch lecker sein kann, kündigte jetzt die Jugendbeigeordnete Elona Müller an. „Deck doch bitte schon mal den Tisch“, wird Tobias gleich eingespannt. Langsam füllt sich die Küche. Auf dem lang gestreckten Tisch stehen die Schüsseln, aus denen Dampf aufsteigt. Jeder tut sich auf. „Noch nich“ anfangen“, ermahnt Kevin seinen Freund. „Mit einem gemeinsamen Essen lässt sich viel vermitteln“, registriert Tobias Klein die Erfolge: Esskultur, Gemeinschaftsgefühl, Vertrauen – ein pädagogisches Universalmittel. „Wir sind durchaus streng“, ergänzt seine Kollegin. Das habe sich auf die Gruppe übertragen. „Wenn hier einer isst wie Sau, gibt“s “nen Spruch. Das wird sofort kommentiert“, sagt Anne Thierling. „Du kippelst“, fällt ihr Agneta ins Wort. Die Regeln gelten für alle. In einer launigen Minute vergisst aber auch eine Sozialarbeiterin mal ihre Vorbildfunktion und erfreut sich kippelnderweise am spendierten Schokoriegel zum Nachtisch.
Nicola Klusemann
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