DICHTER Dran: Wenn ich könnte, wie ich wollte
Die Lehrer streiken auf dem Luisenplatz, am Helmholtz-Gymnasium streiken die Schüler. Vielleicht machen auch die Studenten bald wieder mit.
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Die Lehrer streiken auf dem Luisenplatz, am Helmholtz-Gymnasium streiken die Schüler. Vielleicht machen auch die Studenten bald wieder mit. Überall in Deutschland streiken die Lokführer, und in Ägypten streiken sie ihren Diktator weg. Die Ägypter waren auch die, die den Streik erfunden haben. Als die Arbeiter im Tal der Könige vor Hunger nicht an den Königsgräbern weiter bauen konnten, gingen sie auf die Barrikaden. In Ägypten weiß man schon seit Jahrtausenden, wie das geht, nur ich habe noch nie gestreikt. Da gibt es Warnstreiks, Generalstreiks, wilde Streiks, Sitz- und Hungerstreiks, es gibt Streikkommittees, Streikposten und Streikbrecher, ich beherrsche das gesamte Vokabular, aber es nützt nichts. Ich kann nicht auf die Barrikaden gehen. Ich bin meine eigene Arbeitgeberin. Ich müsste mich selbst bestreiken. Ich könnte auch diese 2000 Zeichen bestreiken und ein leeres Blatt abgeben, was bei diesem herrlichen Wetter sowieso das Beste wäre. Ich setze mich in eine rote Decke gewickelt vors Café Heider, halte mein Gesicht in die Sonne und streike. Ich streike solidarisch mit denen, die nicht mehr streiken können, weil sie sich mangels Alternativen zu Selbstausbeutern gemacht haben. Gründe habe ich genug. Der verrottende Dachfirst des „Charlott“ lädt dazu ein, ihn mit flammenden Zitaten Karl Liebknechts zu besprühen, um den Eigentümer aufzustören. Ich könnte Deutschland vom vorletzten Listenplatz Europas wegstreiken, den wir innehaben, wenn es darum geht, die Gleichberechtigung von Mann und Frau in die Realität zu übertragen, nach uns kommt nur noch Moldawien. Erst neulich war mir das wieder peinlich, als der ehemalige schwedische Botschafter angesichts einer men-only Podiumsrunde verblüfft sagte, das sei hier wohl noch immer so üblich. Ich hätte auch die Massenbelustigung der Seefestspiele bestreikt. Aber das haben glücklicherweise schon andere erledigt. Mein Streik wäre nicht sehr wirkungsvoll gewesen. Er fällt niemandem auf. Die leere Stelle im Blatt würde die Zeitungsredaktion einfach mit einer Anzeige füllen.
Unsere Autorin Antje Rávic Strubel lebt und arbeitet als Schriftstellerin und Übersetzerin in Potsdam. Für ihren 2007 erschienen Roman „Kältere Schichten der Luft“ erhielt sie zahlreiche Auszeichnungen.
Antje Rávic Strubel
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