Landeshauptstadt: Wenn kleine Schrift zum Problem wird Eine 22-Jährige ist Auszubildende bei der Potsdamer Arbeitsagentur – trotz ihrer Sehbehinderung
Soll Nicole Schneider ein Blatt voller Schrift lesen und verstehen, braucht sie dafür ein paar Minuten länger als andere Menschen. Das liegt nicht an ihrer Intelligenz – die 22-Jährige hat einen Abiturdurchschnitt mit einer „Zwei vor dem Komma“.
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Soll Nicole Schneider ein Blatt voller Schrift lesen und verstehen, braucht sie dafür ein paar Minuten länger als andere Menschen. Das liegt nicht an ihrer Intelligenz – die 22-Jährige hat einen Abiturdurchschnitt mit einer „Zwei vor dem Komma“. Doch seit ihrer Geburt muss Nicole Schneider mit einer schweren Behinderung leben: Sie besitzt nur 50 Prozent Sehkraft, ihre Augen zittern permanent und sie können sich nicht sofort auf bestimmte Punkte fixieren. Nystagmus heißt das sperrige Fachwort für dieses Leiden. „Gerade kleine Schrift kann ich nur sehr schwer erkennen.“
Potenzielle Arbeitgeber hat diese Behinderung abgeschreckt, glaubt die junge Frau. Sie erzählt, wie sie nach ihrer Schulausbildung viele Bewerbungen schrieb, 80 an der Zahl. Bei manchen erhielt sie noch nicht einmal eine Antwort. Schließlich aber klappte es – seit zwei Jahren lässt sich Nicole bei der Potsdamer Agentur für Arbeit zur Fachangestellten für Arbeitsförderung ausbilden. Für die Agentur ist sie nach dieser Zeit ein exemplarisches Beispiel dafür, wie Menschen mit Behinderung in das normale Berufsleben integriert werden können – deswegen soll sie vorgestellt werden. Nicole Schneider arbeitet in Potsdam wie andere Kollegen am Empfang mit Arbeitslosen, aber auch im Büro.
Einfach ist das nicht immer – auch für Nicole Schneider selbst. Wenn sie in Potsdam arbeitet, muss sie beispielsweise ihr Zuhause bei Jüterborg bereits 5.45 Uhr verlassen. Weil zu dieser Zeit noch keine Busse fahren, müssen die Familie oder Freunde sie nach Luckenwalde bringen, damit sie ihren Zug nach Potsdam noch erwischt. Wenn dann im Bahnhof ein Aushang informiert, dass ein Zug umgeleitet wird oder zu spät kommt, muss sie ganz nah herangehen, um die Schrift zu lesen – ein Problem, wenn viel Trubel auf einem Bahnsteig herrscht. Ein Auto, um sich unabhängiger und mobiler durch den Alltag zu bewegen, wird die junge Frau laut ihrem Augenarzt nie fahren dürfen. Auch in der Berufsschule gelten für Nicole Schneider besondere Regeln. Bei Klausuren bekommt sie eine Zeit-Zugabe – und wenn Bilder, Diagramme oder Tabellen per Beamer oder Polylux an die Wand geworfen werden, benötigt sie immer eine Extra-Kopie.
Doch trotz solcher Einschränkungen, erledigt Nicole Schneider ihre Aufgaben offensichtlich gut. „Es gibt natürlich noch bei vielen Unternehmen gewisse Vorbehalte gegen behinderte Menschen – aber richtig eingesetzt, sind sie eine wertvolle Bereicherung“, sagt Agenturchefin Edelgard Woythe. Menschen wie Nicole Schneider würden nicht auf ihre gesundheitlichen Einschränkungen beschränkt und bedauert werden wollen, sondern respektiert und gewürdigt für ihre Leistungen. Zunehmend würde dies auch in der Wirtschaft erkannt, so Woythe – auch vor dem Hintergrund, dass vor allem wegen geburtenschwacher Jahrgänge derzeit immer weniger Jugendliche für eine Ausbildung zur Verfügung stehen.
Doch bloß eine Lückenfüllerin will Nicole Schneider nicht sein. Viel hat sie noch vor, vielleicht sogar noch über die Arbeitsagentur studieren. „Ich bin sehr ehrgeizig“, sagt sie und wirkt entschlossen, wie jemand, der es gewohnt ist, trotz Einschränkungen zu kämpfen. Denn auf eine Besserung ihrer Augenkrankheit kann Nicole Schneider nur vage hoffen: Eine Laserbehandlung wäre wegen des zuckenden Auges zu gefährlich. H. Kramer
H. KramerD
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