SAMSTAGScocktail: Wie weggeblasen
Ich gehe durchaus gern, auch weit, vorausgesetzt, es gibt einen Ort, zu dem ich hin will. Reines Spazierengehen liegt mir nicht.
Stand:
Ich gehe durchaus gern, auch weit, vorausgesetzt, es gibt einen Ort, zu dem ich hin will. Reines Spazierengehen liegt mir nicht. Ich fühle mich wie eine Scharlatanin und kehre schon nach kurzer Zeit irgendwo ein.
Den längsten Spaziergang meines Lebens absolvierte ich am Tag der deutschen Vereinigung (was mir erst spät auffiel). Auf seltsam verschlungenen Wegen lief ich von Potsdam nach Berlin. Allerdings war ich nicht allein. Der Gang war eindeutig der Liebe geschuldet, vermutlich der einzige Grund, warum man ziellos herumwandern sollte.
Als die Feuerwerke über Berlin losknallten, stand ich mit dem Jungen an irgendeiner Brücke über der Spree (oder wars die Havel?, der Teltow-Kanal?) und warf einen letzten Aluminiumpfennig, der sich vom vergangenen Winter noch in meiner Jackentasche befunden hatte, ins Wasser unter uns. Anstatt hineinzufallen, wurde die Münze vom Wind sofort in die Dunkelheit weggeblasen.
Wenn ich enttäuscht oder niedergeschlagen bin, kann ich gar keine Fahrzeuge benutzen, nicht mal mein Fahrrad. Deshalb bin ich, als der Junge von der Brücke aufgehört hatte, mich zu lieben (oder ich ihn?) zu Fuß zum Bahnhof gelaufen, der damals ja am Stadtrand lag anstatt wie die meisten Bahnhöfe üblicherweise im Zentrum. An den Informationstafeln studierte ich die Fernzüge. Es gab bloß einen, nach Wien.
Ich wartete, bis der Zug kam, es war ein Nachtzug, stieg aber nicht ein. Noch niedergeschlagener und enttäuschter trat ich den Heimweg an. Unterwegs begegnete ich dem Jungen. Da wir beide unbegabt zum Streiten waren, schwiegen wir uns an. Um der Sache endlich ein Ende zu machen, bot er sich an, mich nach Hause zu begleiten. Ich glaube, ich lief mit gesenktem Kopf, jedenfalls merkte ich nicht, dass er irgendwann verschwand von meiner Seite. Irgendwann drehte ich mich um und sah, dass auf der langen Heinrich-Mann-Allee nicht mal in der Ferne auch nur irgendeine menschliche Gestalt zu erkennen war, er sich also schon vor geraumer Zeit davongemacht haben musste, auf welchem Wege auch immer. Das Erstaunen über diese Geschwindigkeit war dann fast tröstlich.
Unsere Autorin lebt seit 1986 in Potsdam. Während ihres Germanistik- und Romanistik-Studiums war sie für längere Zeit in Paris, Bukarest und Kaliningrad. Seit 2003 arbeitet sie als freiberufliche Autorin und Übersetzerin. Zuletzt erschien von Julia Schoch der Roman „Selbstporträt mit Bonaparte“.
Julia Schoch
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