
© Andreas Klaer
ZUR PERSON: „Wieder lernen, Straßenbahn zu fahren“
Der frühere EU-Kommissar Günter Verheugen ist Potsdamer Neu-Bürger und will sich mit einem Rentnerdasein nicht abfinden
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Zu Beginn dieses Jahres war er noch einer der mächtigsten Menschen von ganz Europa, abgeschirmt und meist mit dem Dienstwagen unterwegs – jetzt kann man ihm in Potsdams historischer Mitte beim Gemüsehändler oder Bäcker begegnen: Günter Verheugen, früherer EU-Kommissar, ist seit April des Jahres Potsdamer. Der 66-Jährige wohnt in einem prachtvollen Mehrgeschosser nahe dem Stadthaus. Noch, so sagt er, sei in seiner Wohnung nicht alles an dem Ort, wo es sein sollte. Aber einige seiner Antiquitäten haben schon Platz gefunden – darunter ein Schachtisch, von dem es nur drei Exemplare auf der ganzen Welt geben soll. Im Haus befinden sich auch seine Büroräume, denn ein normales Rentnerdasein ist nicht das Ding von Verheugen.
„Wir leben heute in einer anderen Zeit“, sagt Verheugen. „Ich halte die erzwungene Altersgrenze von 65 Jahren für totalen Quatsch. Der demografische Zustand unserer Gesellschaft erlaubt das ja gar nicht. Weder körperlich noch geistig bin ich in einer Verfassung, in der ich das ertragen könnte.“
Allerdings schränkt Verheugen ein: „Für mich war immer klar gewesen, dass das Ende meiner Arbeit als EU-Kommissar auch das Ende meiner politischen Arbeit sein wird.“ 40 Jahre in der Politik seien genug. Über das Danach hatte er sich schon seit längerem Gedanken gemacht. „Was ich auf jeden Fall wollte: Mit jungen Leuten arbeiten, Erfahrungen weitergeben.“ Das interessanteste Angebot dafür kam von der Viadrina in Frankfurt (Oder). Seit Februar ist er dort Honorarprofessor – natürlich für den Bereich Europa.
Der Entscheidung für Potsdam als neuem Wohnort war zunächst eher pragmatisch. Wichtig für ihn war die Nähe zu einem Flughafen im Großraum Berlin, denn er ist wegen weiterer beruflicher Aktivitäten auch viel auf Reisen. Und: „Ich wollte in keine Großstadt.“ Große Städte seien ohnehin nie sein Ding gewesen, erzählt Verheugen. So sei Potsdam am Ende einer längeren Suche – auch ganz praktisch über das Internet – „genau die richtige Wahl“ gewesen. Zumal frühere Wohnorte – abgesehen von Brüssel –, das hat er mittlerweile herausgefunden, durchaus Gemeinsamkeiten mit Potsdam haben. So gehört Verheugens Heimatstadt Brühl im Rheinland, genau wie Potsdam, zum Weltkulturerbe, nennt sich Schloss- und Gartenstadt, war sogar Residenzstadt der Kurfürsten von Köln. Und Kulmbach, wo Verheugen ebenfalls längere Zeit lebte, sei einst Hohenzollern-Residenz gewesen, nämlich bis zum Ende des Fürstentums Brandenburg- Kulmbach vor etwa 200 Jahren.
Doch dies, so Verheugen, seien eher Zufälligkeiten. Viel wichtiger sei, dass Potsdam „überraschend schön ist. Es ist sehr angenehm, hier zu leben.“ Potsdam selbst hat er in den vergangenen Monaten zu Fuß erkundet, denn „ich habe schon seit Jahren kein Auto – und hier brauche ich es nicht“. Schloss und Park Cecilienhof, Alexandrowka, Park Sanssouci hat er sich erwandert. Was Verheugen gar nicht kannte und schätzen gelernt hat, ist die Potsdamer Innenstadt. „Sehr bemerkenswert, architektonisch einheitlich und mit allem, was man braucht.“ Natürlich gehörten auch Fahrten mit der Weissen Flotte zum besseren Kennenleren der Stadt. „Die Lage Potsdams am Wasser ist wirklich einmalig.“ Und Verheugen ist überzeugt: „Es wird nicht mehr lange dauern, dann ist Potsdam für den ganzen Großraum hier die Top- Adresse.“
Erst Brüssel, jetzt Potsdam – für Verheugen ist das kein Problem. „Ich hatte dort eine kleine Wohnung, war an den Wochenenden meistens woanders. Ich kann nicht sagen, dass ich dort intensiv gelebt habe.“ Allerdings gab es auf andere Weise Veränderungen. Immerhin: Ein EU-Kommissar wird hofiert, steht im Rampenlicht, braucht sich um viele Dinge nicht zu kümmern. „Äußerlichkeiten haben für mich nie ein große Rolle gespielt“, sagt Verheugen. „Ich habe mich sogar darauf gefreut, dass dieses ununterbrochene Eingebundensein, die Tatsache, dass jedes Wort auf die Goldwaage gelegt wird, die vielen Termine, der ständige Entscheidungsdruck zu Ende gehen würde. Irgendwann reicht einem das.“ Die „Auswilderung, meine Resozialisierung ist ohne jedes Problem verlaufen.“ Allerdings: „Ein paar Dinge musste ich doch wieder lernen – zum Beispiel, wie man mit der Straßenbahn oder S-Bahn fährt –, auch wenn das manchen verwundern wird.“ Und insgesamt sei das Alltagsleben zeitaufwändiger geworden. Aber dies, so Verheugen, gehöre dazu, zum neuen Leben. „Ich hatte, was ich wollte – es war genug.“
Genug hat er nicht vom Arbeiten. „Es wäre doch eine ziemliche Verschwendung, wenn ich meine Erfahrungen und Kenntnisse aus vier Jahrzehnten einfach mit nach Hause nehmen würde. Das kam für mich nicht infrage“, sagt der 66-Jährige. Und berichtet über seine vielfältige Arbeit neben seiner Tätigkeit als Honorarprofessor. Wichtig ist ihm aber zunächst die Feststellung, „dass ich viele Angebote, zum Beispiel aus der Industrie, abgelehnt habe“. Verheugen berät nach eigenen Angaben zwei Unternehmen und zwei Verbände. Und hat doch Probleme mit der EU. Der Kodex der Europäischen Kommission sieht nämlich vor, dass Anschlusstätigkeiten von scheidenden Kommissaren von einer speziellen Kommission gebilligt werden müssen. Laut Medienberichten prüft die EU, ob Verheugen gegen diesen Kodex verstoßen hat – weil er seine Tätigkeit für die in Potsdam neu gegründete Beratungsfirma European Experience Company nicht gemeldet hat. Verheugen verweist hingegen darauf, dass die Arbeit für die Company „ehrenamtlich“ sei. „Ich bin dort nicht angestellt – Lobbyismus ist ausgeschlossen.“ Geschäftsführerin ist seine frühere Kabinettschefin aus Brüsseler Zeit, Petra Erler, die vor vielen Jahren laut Verheugen auch schon für die brandenburgische Landesregierung tätig war.
Verheugen ist Vielflieger, wie er sagt. Vor zwei Wochen erst sei er auf Vortragsreise in Japan gewesen, jetzt tourt er durch mehre Städte in den USA. Drei Themen seien ihm wichtig: „der Zustand der europäischen Integration, die internationale Außen- und Sicherheitspolitik und das europäische Krisenmanagement“. Ständig kämen neue Anfragen. „Alle denken, der hat ja jetzt Zeit.“
Zur Potsdamer SPD hat er derzeit keinen Kontakt. Verheugen: „Wie gesagt, politisch werde ich nicht mehr aktiv sein, somit auch nicht parteipolitisch – aber wenn die Genossen in Potsdam meinen Rat haben wollen, bin ich gern dazu bereit.“ Natürlich gebe es auch private Kontakte zu Potsdamern. „Aber es ist so, dass ich im Augenblick nicht viel freie Zeit habe. Ich könnte jeden Tag woanders sein, auf Kongressen, Seminaren, an Universitäten.“ Außerdem arbeite er an einem Buch – natürlich zum Thema Europa.
Die Potsdamer selbst seien – und da entdeckt er doch wieder Verbindungen zu seiner eigenen Vergangenheit – den Oberfranken durchaus ähnlich. „Die tragen das Herz auch nicht auf der Zunge.“ Allerdings, was für die Oberfranken und die Potsdamer spricht: „Wenn man sich erst einmal kennt, dann sind die voll in Ordnung.“ Verheugen: „Mit dieser Mentalität komme ich gut zurecht.“ Ein bisschen was über die Potsdamer muss der Ex-Kommissar aber wohl doch noch lernen. Das erklärt sich aus seiner Haltung zum Landtagsneubau: „Ich bin verwundert darüber, dass die Potsdamer so versessen darauf sind, einen neuen Landtag mit historischer Fassade haben zu wollen.“
Günter Verheugen wurde am 28. April 1944 geboren. Er studierte Geschichte, Soziologie und Politische Wissenschaften. 1977 wurde er Bundesgeschäftsführer der FDP. 1978 wurde er FDP-Generalsekretär. 1982 wechselte er in die SPD, war 1993 bis 1995 Bundesgeschäftsführer der SPD. Im September 1999 wurde er Mitglied der EU-Kommission, war zunächst für die EU-Erweiterung zuständig, von November 2004 bis zum 9. Februar 2010 war er Kommissar für Industrie und Unternehmenspolitik. Verheugen ist Honorarprofessor an der Viadrina in Frankfurt (Oder) und arbeitet als Berater für Unternehmen und Institutionen.
Michael Erbach
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