Von Mark Minnes: Wiederentdeckung eines Genies
Internationale Konferenz über den Mathematiker und Philologen Hermann Graßmann
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Einige akademische Konferenzen fordern ihren Besuchern alles ab. Manchmal erschüttert ein Thema die fein gezogenen Grenzlinien im Garten der universitären Wissenschaften. Jüngst trafen sich 70 Wissenschaftler aus aller Welt an der Universität Potsdam zu einer Konferenz über das Universalgenie Hermann Graßmann. Sie folgten der Einladung des Potsdamer Philosophieprofessors und Grassman-Experten Hans-Joachim Petsche.
Vor 200 Jahren geboren, veränderte Hermann Graßman in der damals preußischen Stadt Stettin den Lauf der modernen Wissenschaft. Er zählt zu den Gründungsvätern der modernen Mathematik. Sein Ruf als Sanskrit-Philologe reicht heute bis in den fernen Osten. Aber Graßmann war auch gesellschaftlicher Aktivist, ein beachteter Physiker und ein einflussreicher Lehrer am Stettiner Gymnasium. Sein Denken, dies wurde den Wissenschaftlern in Potsdam klar, ist von einer fast übermenschlichen Intensität.
Dabei fing alles ganz harmlos an. In jungen Jahren deutete nichts auf Graßmanns spätere Genialität hin. Als Schüler sei er unkonzentriert und verträumt gewesen, schreibt er in einem Lebenslauf. Sein Vater, selber Lehrer und lokale Geistesgröße, habe die Erwartungen an seinen Sohn schnell zurückgesteckt: Er werde es gleichmütig ertragen, sollte Hermann es nur zum Gärtner bringen. Doch der Glaube, berichtete Graßmann später, habe ihm die Augen geöffnet. Ab 1827 studierte er in Berlin Theologie. Nebenher widmete er sich der Philologie und der Mathematik. Lange fragte er sich, ob er der Kirche dienen solle. Doch dann trat er in die Fußstapfen seines Vaters, wurde Lehrer und suchte Erfüllung in der Welt des Wissens.
Die Hinwendung zur Wissenschaft erweckte die ungeahnten Geisteskräfte des jungen Mannes. Mit der Disziplin eines preußischen Gelehrten und urprotestantischer Strenge verbiss er sich in gigantische wissenschaftliche Aufgaben. Sein Bruder Robert wurde sein einziger Mitarbeiter. Graßmann lehrte am Gymnasium, heiratete, zeugte elf Kinder und forschte unermüdlich. Bis heute vermag es niemand, sein Gesamtwerk zu überschauen: „Warum ist er nicht einfach mal Tennis spielen gegangen?“, seufzte ein Mathematikhistoriker am Rande der Tagung. Neben Graßmann kann man sich mitunter ziemlich klein fühlen.
Graßmann arbeitete in der Isolation der pommerschen Kleinstadt Stettin. Seine 1844 veröffentlichte „Ausdehnungslehre“ ist nichts weniger als das Gründungsdokument der „linearen Algebra“, Teil der modernen höheren Mathematik. „Graßmann hat im Alleingang ein extrem leistungsfähiges mathematisches Instrumentarium geschaffen“, sagte Dr. Steve Russ, ein Computerspezialist aus Großbritannien. Ob „Vektorrechnung, „Graßmann-Algebra“ oder „geometrische Algebra“: ohne Graßmanns Erkenntnisse wären viele computergestützte Prozesse gar nicht denkbar, seien es die Routenplanung des „Navi“ im Auto, oder die modernen, bis zum Äußersten vernetzten Bahnfahrpläne.
Doch Graßmanns visionäre mathematische Leistung wurde zu seinen Lebzeiten unterschätzt. So wandte er sich im Alter von vierzig Jahren der Philologie zu: mit glänzendem Erfolg. Die Potsdamer Konferenz würdigte in Graßmann einen Pionier der Sanskrit-Forschung und der vergleichenden Sprachwissenschaft. Graßmann widmete sich dem Rig-Veda, einem indischen Hymnenzyklus, welcher damals als das älteste Sprachdenkmal der Welt galt. Nachdem sich die Mathematiker in Potsdam für ihre komplizierten Formeln begeistert hatten, waren sie mit nicht minder komplizierten Vorträgen der angereisten Sanskrit-Philologen konfrontiert. Disziplinäre Grenzen haben bei Graßmann niemals lange Bestand.
Eine Exkursion in Graßmanns Heimatstadt, das polnische Sczcecin, bildete den Abschluss einer bemerkenswerten Konferenz. Ein Orgelkonzert in der Backsteinkathedrale der Hafenstadt versetzte die Teilnehmer in eine Zeit zurück, in der religiöse Empfindungen noch den Boden für wissenschaftliche Brillanz bildeten. Die Kollegen von der Universität Sczcecin bereiteten den aus aller Welt angereisten Wissenschaftlern einen warmherzigen Empfang. Sogar eine Originalausgabe von Graßmanns „Ausdehnungslehre“ aus dem Jahr 1878 fand den Weg zurück an ihren Ursprung: Sie befand sich im Gepäck des Berliner Mathematikers Jörg Liesen. Er hatte das Buch in einem amerikanischen Antiquariat gefunden. So überwand die Potsdamer Graßmann-Konferenz Raum, Zeit, politische und disziplinäre Grenzen. Sie hat die universelle Kraft des Genies von Hermann Graßmanns für die Gegenwart spürbar gemacht. Von dieser Kraft zu lernen, dies zeigte die Konferenz, ist eine Aufgabe für die Zukunft.
Mark Minnes
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