Landeshauptstadt: „Wir brüllen, weil wir uns nicht sehen“
Woche des Sehens: Kinder erlebten beim „Frühstück im Dunkeln“, wie es ist, blind zu sein
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Babelsberg – Eine Flasche poltert zu Boden, ein Stuhl fällt krachend um. „Hilfe, ich bin vom Stuhl gerutscht“, ruft ein Neunjähriger. Gemeinsam mit seinen Klassenkameraden befindet er sich seit einer Stunde in einem total abgedunkelten Raum beim Blindenhilfswerk in Babelsberg. Die Kinder erleben ein „Frühstück im Dunkeln“ nach einer Idee von Stephanie Seidel von der Beratungsstelle für Blinde und Sehbehinderte. Diese hatte gestern Vormittag eine Gruppe Zweitklässler von der Freien Schule am Bisamkiez sowie die neunte Klasse der Montessori-Schule in der Waldstadt zu einem ungewöhnlichen „Feldversuch“ eingeladen. „Die Kinder sollen sich einmal in die Rolle eines Blinden hineinversetzen“, nennt Seidel als Ziel.
„Ihr könnt Steffi zu mir sagen“, bietet sie den Mitwirkenden an. „Siehst du überhaupt nichts, Steffi?“, will der blonde Nikolas wissen. „Ich sehe noch einen kleinen Rest“, antwortet die Blinden-Beraterin, „zum Beispiel hinten den Lichtschein der offenen Tür, aber deine Haarfarbe kann ich nicht erkennen.“
Die Helfer, die Reinhard König, Geschäftsführer des Sozialwerks Potsdam, für die Aktion im Rahmen der gestern begonnenen Woche des Sehens gewonnen hatte, dunkelten den Raum zuvor mit schwarzer Folie und Klebeband vollständig ab. „Das ist gar nicht so einfach“, berichtet König, oft sei erst nach Minuten sichtbar, dass doch noch ein Lichtrest durch einen Schlitz eindringt. Steffi führt die Kinder und Jugendlichen durch eine Lichtschleuse in den Frühstücksraum und zu den Sitzplätzen. „Ich dachte schon, wir müssten uns die Brötchen im Dunkeln selbst aufschneiden und schmieren“, sagt Marian Scheffler. Aber die Helfer hatten die Frühstücksteller mit belegten Brötchen, eingewickeltem Obst und Schokolade vorbereitet. „Die Salami schmeckt lecker“, ist zu hören. „Wir haben laut gesprochen, weil wir uns nicht gesehen haben“, so eine der Erfahrungen der Jugendlichen. Und bei den Kleinen eskaliert das Gespräch gleichsam zum Brüllen, so dass Steffi mehrfach zur Ruhe mahnen muss. „Alle Bewegungen sind langsamer“, erzählt Gregor Schneider über die Dunkelstunde, die er wie seine Klassenkameraden für sehr lehrreich hält. Eigene Erlebnisse der Schülerinnen und Schüler mit blinden Menschen sind eher gering. Magdalena Ohlendorf, Lehrerin an der Montessori-Schule, hält die Erfahrung beim Frühstück im Dunkeln daher für sehr wichtig. Einige Jugendliche wissen, dass sie blinde Menschen zuvor ansprechen müssen, falls sie ihnen über die Straße helfen wollen. Sie wissen auch, dass der weiße Stock nicht nur eine Orientierungshilfe, sondern auch ein äußeres Kennzeichen des Blindseins ist.
Stephanie Seidel ist am Ende des insgesamt vierstündigen Vormittagsparcours sichtlich geschafft. „Das war anstrengend“, räumt sie ein. Aber das Ziel, das sie sich gesteckt hatte, sei erreicht worden. „Zeitweise musste ich mich förmlich zerteilen“, als die Kleinen sie um Hilfe riefen, weil ihnen etwas heruntergefallen war oder sie den rechten Platz nicht mehr fanden. Erstaunt zeigt sich Seidel über das feine Gehör der Kinder. „Das Öffnen einer Flasche, das Geräusch beim Betätigen des Reißverschlusses und beim Eingießen von Wasser in ein Glas haben sie sofort richtig erkannt.“
„Ich zähle jetzt bis drei und dann wird es wieder hell“, kündigt Seidel an. Die Kinder geben zu, dass sie dieses Signal sehnsüchtig erwartet haben. Dass es ihnen doch nicht so ganz leicht gefallen ist, sich im Dunkeln zu orientieren, zeigt am Ende der Zustand des Raumes: Wurst- und Käsescheiben liegen verstreut auf den Tischen und sogar auf dem Fußboden herum; die Servietten sind bis in die letzte Ecke geflattert.
„Eine gute Erfahrung für die Kinder“, sagt Katharina Frisch, Lehrerin an der Freien Schule. Selbst bei den Zweitklässlern, denen es zum Teil noch an Konzentration und Geduld für diesen im Grunde ernsten Versuch fehlte, dürfte das Frühstück im Dunkeln einen unvergesslichen Eindruck hinterlassen haben.
Günter Schenke
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