Landeshauptstadt: „Wir Deutschen ziehen hier alle aus“
„Ältere Herren“ werben für Videoüberwachung: Wie ein Gewoba-Hochhaus am Schlaatz zur Brutstätte ausländerfeindlichen Denkens wird
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Die Graffiti-Schichten lassen vom 1997er Wandbild „Evolution of an Art“ nur noch den Namen und das Entstehungsjahr übrig. Das Restaurant „Full House“ ist noch leer, es lädt wochentags ab 11.30 Uhr zum täglich wechselnden Mittagstisch für 3,90 Euro. Die Textilreinigung gleich nebenan wirbt an der Außenscheibe mit „Oberhemden, Stück 1,55 Euro“. Vor der Eingangstür wartet ein neuer Spielplatz auf Kinder. Den Platz vor dem Hintereingang zieren zwei mit Wasser vollgesogene Schaumstoffsofas älteren Designs.
96 Wohnungen türmen sich in 16 Etagen übereinander, der Schilfhof 20 ist nicht das einzige Wohnhochhaus am Schlaatz. Doch es ist „das schlimmste Haus überhaupt“. Die Frau, die das sagt, trägt Schminke, eine grellrote Lederjacke und gefärbte schwarze Haare und will gerade einkaufen gehen. „Überall Vandalismus“, fährt sie fort, „die Schäden gehen alle auf unsere Miete“. Von ihrer Rente blieben ihr aber nur 100 Euro im Monat. Dagegen gehe es den Hartz-IV-Empfängern richtig gut, die hätten 345 Euro im Monat. Darum ist sie auch gegen eine Videoüberwachung im Fahrstuhl ihres Hauses, die Kameras würden doch nur kaputtgeschlagen und sie, die Mieter, müssten das dann bezahlen.
Eine Initiative „älterer Herren“, wie der Mieter Klaus Jorek sagt, wolle die Kameras in den beiden Fahrstühlen installieren lassen. Ständig werden die Spiegel zerkratzt, irgendwer stellt immer seinen Müllbeutel einfach nur in den Fahrstuhl oder lasse seinen Hund reinpinkeln, weil er zu spät aufgebrochen ist zum Gassi-Gehen, bestätigt auch Jorek. Die Initiatoren sind von Tür zu Tür gegangen und haben um Zustimmung geworben. Ihm wollten sie aber nicht lange zuhören, denn er ist strikt dagegen. Seine 15-jährige Enkelin betrachte den Fahrstuhl als „Intimssphäre“ und auch er findet, man werde sich doch wohl im Fahrstuhl noch unbeobachtet den Hosenstall zumachen dürfen. Zudem fehle für die Kameras „jede Rechtsgrundlage“. Die Spitze sei, dass „Sünder“ vom Videoband abfotografiert und die Fotos im Hausflur wie an einem Pranger aufgehängt werden sollen.
Eigentümer des Hauses Schilfhof 20 ist die Gewoba. Die lässt mitteilen, der Wunsch einiger Mieter nach Installation von Videokameras sei bekannt und werde geprüft. Eine Entscheidung darüber sei aber noch nicht gefallen.
Der Dame in der roten Lederjacke ist das egal, sie ziehe sowieso bald aus. „Wir Deutschen ziehen hier alle aus.“ Nur noch zwölf Familien im Haus seien überhaupt noch Deutsche. Aber wer sich beschwere sei ja gleich ausländerfeindlich. „Kommen Se rein“, bietet sie an. Im Eingangbereich wird ein Stück der Deckenverkleidung in nächster Zeit herabfallen, ein weiteres fehlt bereits und hinterlässt ein Loch in der Decke, das den Blick frei gibt auf gut isolierte Versorgungsleitungen. Die Dame zeigt auf eine „für 10 000 D-Mark“ installierte Pförtner-Loge, die aber seit zwei Jahren leer steht. Stattdessen ist an der Logenscheibe eine kostenfreie Service-Nummer der Gewoba notiert: 0180.247.365.1.
Ein Mann mit einer Schiffermütze tritt hinzu. Der Dreck und die Schäden, „das waren nicht alles die Ausländer. Aber als wir noch einigermaßen allein waren, war es besser“, sagt er. Die Frau in der roten Lederjacke und er sind sich einig, dass die Russen im Haus „1,10 Meter große Flachbildschirme“ hätten. Auch die ganzen „Mercedesse“ vor der Tür gehörten denen. Eine ältere Dame, die das hört, pflichtet bei: „Die wechseln die Autos wie die Hemden.“ Die Frau in der roten Lederjacke ergänzt, „die Russin, die blonde, hat immer drei Kerle in der Bude.“ „Wobei es auch Ordentliche gibt – auf unserer Etage“, sagt der Mieter mit der Mütze. Die ältere Dame sagt jetzt: „Unsere Etage ist eine Vorzeige-Etage.“
Ein Fahrstuhl öffnet sich, die Mieter zeigen auf zerkratzte Spiegel und Brandspuren eines Feuerzeugs. Eine halbe Stunde dauere es nur, bis eine neue Schutzfolie am Spiegel wieder zerkratzt ist. Darum ist der Mieter mit der Mütze auch für „Video-Überwachung ringsum“. Schon vor eineinhalb Jahren habe er die Gewoba aufgefordert, Kameras anzubringen, doch die habe geantwortet, dass das gesetzlich nicht möglich sei.
„Wenn die Kameras auch zerstört werden, ist das Murks“, findet eine Frau, die mit ihren beiden Enkeln an die frische Luft will. Sie sei eine „Ureinwohnerin“, seit 1982 wohne sie in dem Haus. Für ihre Drei-Raum-Wohnung mit 69 Quadratmetern und Balkon zahle sie 490 Euro Warmmiete im Monat. Sie habe nichts gegen Ausländer, sagt sie und meint, sie müsse es jetzt vorsichtig formulieren, aber „die müssen sich uns anpassen“, nicht umgekehrt.
Möglicherweise werden die Mieter des Hochhauses Schilfhof 20 zu selten nach ihrer Meinung gefragt. Geschieht es dann doch, muss es dann wohl auch mal raus: „Ich kann verstehen, wenn mal einer ausholt und jemanden halbtot schlägt“, sagt die Frau in der roten Lederjacke plötzlich. Wen sie meint, was sie meint, sagt sie nicht. Ihr Satz zeigt, dass in ihrem Hochhaus ein gefährliches Gemenge am Brodeln ist und dass der Ruf nach Videokameras ein Hilferuf ist. Er zeigt, dass es mehr bedarf als nur Videokameras.
Nun beginnt ein Monteur das Schloss an der Eingangstür zu reparieren. Die Frau in der roten Lederjacke nimmt es als Beweis dafür, dass irgendetwas an diesem Haus immer kaputt gemacht werde. Dabei mache „der Siebert“ immer Kontrollgänge. Dienstag und Donnerstag komme er ins Haus, er ist eine Art Hausmeister. Ach, der kommt von extern, dem ist das „hier alles auch egal“, meint ein Mieter, der im Fahrstuhl verschwindet. „Jeder Mieter zahlt 92 Euro im Jahr für den Siebert“, weiß die Frau in der roten Lederjacke. Früher hatte „der Siebert“ immer noch einen Briefkasten, in den der Mieter einen Kummerbrief einwerfen konnte. Nun nicht mehr.
Die Frau in der roten Lederjacke muss jetzt aber los zum Einkaufen. Vor der Tür steht der Mann mit der Schiffermütze. Was er noch vergessen hatte zu sagen: Auch zwei Russen seien schon ausgezogen, weil sie in so einem „Dreckstall“ nicht mehr wohnen wollen:
„Also wenn jetzt sogar die Russen ausziehen, weil es ihnen hier zu dreckig ist “
Der Mann mit der Mütze muss noch eine weitere Begebenheit loswerden: Einmal habe er einem Typen mit „ethnischen Minderheitszügen“ beim Vandalismus erwischt. Die Kosten dafür werde auf die Miete umgelegt, habe er ihm gesagt. Die Antwort: Er zahle gar keine Miete. Alle sind sich einig, dass die wenigsten Ausländer in ihrem Haus die Mieter selber zahlen müssen.
Indes kämpft ein Mann mit Tätowierungen am Arm darum, einen Einkaufswagen mit einem Kasten Oettinger-Bier und mehreren Schnapsflaschen darin durch die Eingangstür ins Hausinnere zu bugsieren. Seine Motorik ist alkoholbedingt stark eingeschränkt. Seine Beine zittern, er bewegt sich mit ihnen so unsicher fort wie ein Baby. Er wird geringschätzig angesehen, von der Frau mit der roten Lederjacke, dem Mann mit der Schiffermütze und der Oma mit den zwei Enkelkindern.
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