Landeshauptstadt: „Wir Kleinen können mehr“
Wie ein Schauspiellehrer mit einem Potsdamer Jungdarsteller für ein Erfolgsmusical probt
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Wie ein Schauspiellehrer mit einem Potsdamer Jungdarsteller für ein Erfolgsmusical probt Von Karsten Sawalski Es ist nicht einfach, auf der Bühne überzeugend zu sterben. Frithjof Gernentz, Kinderdarsteller im Erfolgsmusical „Les Misérables“ ahnt das noch nicht. Der zierliche zehnjährige Junge aus Potsdam trägt seine blonden Locken - entgegen dem Trend - schulterlang und er lässt die Dinge scheinbar unberührt auf sich zukommen. „Wenn alles klappt, spiele ich heute die Sterbeszene“, sagt Frithjof gelassen. Gleich beginnt seine 90-minütige Einzelprobe. Auch der Ernstfall lässt bei dem Zehnjährigen keine sichtbare Unruhe aufkommen. Ab Mitte Juli dieses Jahres wird Frithjof als Gavroche vor ein zahlendes Publikum im berühmten Theater des Westens auf die Bühne treten. „Nein, ich bin nicht aufgeregt“, sagt er mit etwas rauer Stimme, „es ist ja noch nicht so weit“. Mit gespielter Langeweile sitzt der Jungdarsteller alleine an einem Tisch in der Theaterkantine. Die gestandenen Schauspieler grüßen den jungen Darsteller freundschaftlich im Vorbeigehen. Auf dem ansonsten leeren Tisch liegen nur sein Handy und die blaue Mappe mit den Texten, die er lernen muss. Die vier Lieder kann er schon. „Das war einfach, weil das Ohrwürmer sind“, sagt der Schüler, der sonst lieber die Beastie Boys hört. Eine Liste mit Terminen ist in der Mappe: Dreimal in der Woche fährt er per S-Bahn, gemeinsam mit seinen Eltern, von Potsdam nach Berlin. „Ich könnte aber auch alleine fahren“, sagt Frithjof selbstbewusst. „Wegen des Arbeitsschutzes dürfen die Kinder nur 30 mal im Jahr auftreten“, erklärt Margot Bitter von der Presse- und Öffentlichkeitsarbeit der Stage Holding GmbH. Deshalb wurden für die Kinderrollen Cosette, Eponine und Gavroche 30 Kinderdarsteller engagiert, die sich gegenseitig ablösen. Die Stage Holding ist ein riesiges Theaterunternehmen mit Erfolgen wie „Der König der Löwen“ oder „Elisabeth“. Der Welterfolg „Les Misérables“ läuft seit September 2003 in Berlin. Über 50 Millionen Menschen in 38 Ländern, 213 Städten und in 22 Sprachen haben das Musical nach dem Roman von Victor Hugo bereits gesehen. „Künstlerische Qualität und das sensible Begleiten von kreativen Prozessen stehen für jede Produktion an erster Stelle“, beschreibt Maik Klokow, Geschäftsführer der Stage Holding Deutschland, die Philosophie des Kulturunternehmens. Sensibilität oder vielmehr der „richtige Draht“ zu ganz jungen Schauspielern ist das, was die Arbeit von Thomas Hirschfeld, dem Kindermanager, ausmacht. „Wir beginnen da, wo wir letztes Mal aufgehört haben“, sagt Hirschfeld, der immer in einem sehr freundschaftlichen Ton spricht. Trotzdem scheint es zwischen Lehrer und Schüler eine notwendige Distanz zu geben: Hirschfeld erklärt zwar viel, aber er kritisiert den Jungdarsteller auch. Während der gesamten Probenzeit herrscht eine konzentrierte Arbeitsatmosphäre, die daraus resultieren muss, dass der Junge aus Potsdam dem Schauspieltrainer in Berlin absolut vertraut. Denn sobald Frithjof den hohen weiß getünchten Probenraum mit der großen Drehbühne betreten hat, wechselt seine Lässigkeit in eine erwartungsfrohe Stimmung über. Weder die langen, schwarzen Tücher, die an den Wänden hängen, noch das große, schwarze Klavier auf der Drehbühne oder die vielen dunklen Tische und Stühle schüchtern den Zehnjährigen ein. Im Gegenteil: Frithjof beginnt sofort damit, die Requisiten so zurecht zu schieben, wie sie für die erste Übung gebraucht werden. Dann wartet er geduldig auf seinen Einsatz. Die Orchestermusik kommt von einer CD. Frithjof singt real, mit klarer, lauter, durchdringender Stimme. Und er spricht ausdrucksvoll: „Ziemliches Schwein, gebt gut acht!“ Innerhalb von Sekunden ist er in die Person des Gavroche geschlüpft, der den bösen Inspektor Javert verhöhnt. Dabei springt der zierliche Zehnjährige (der im Musical einen Sechsjährigen spielt) vom Tisch (der eine Barrikade darstellt) und hebt drohend die Faust. Eine eindrucksvolle Szene, die gelungen erscheint. Aber Hirschfeld ist noch nicht zufrieden: „Du musst ihn wirklich provozieren“, erklärt er seinem Schüler, der ein T-Shirt mit einer Rapper-Figur trägt. „Spuck ihn mit dem letzten Wort an – den Sack!“ Frithjof versteht schnell, um was es geht. Zwar hat er nie zuvor Theater gespielt und Schauspieler will er später auch nicht werden, aber die Figur des Gavroche, der mutig bis zum eigenen Tod kämpft, scheint ihm auf den kleinen Leib geschrieben zu sein. Absolut präsent erscheint Frithjof in der Szene „Gavroche und die Bettler“: Breitbeinig und mit lauter Stimme trägt der junge Schauspieler das Motto des Charakters vor, den er in dieser Szene nicht mehr nur zu spielen scheint. „Ich bin zwar ziemlich klein, doch hintergeht man mich nicht – wir Kleinen können mehr!“, sagt er mit dem Brustton der Überzeugung, so dass er auch auf einem Schulhof Aufmerksamkeit bekommen würde. Ein ausgesprochenes Lob des Lehrers bekommt der engagierte Darsteller jedoch eher selten zu hören. Trotzdem arbeitet Frithjof 90 Minuten lang sehr konzentriert mit, kann sich komplexe Abläufe schnell merken, macht eigene Vorschläge, wie bestimmte Handlungen aussehen könnten. Hirschfeld ermuntert ihn dazu – immer wieder: „Wie würdest Du Dich fühlen?“, fragt er mit ehrlicher Neugier, als es darum geht, dass Gavroche zwischen den Toten der Straßenschlacht umherschleichen muss. „Ich hätte wohl Schiss“, gibt Frithjof dem Lehrer gegenüber offen aber leise zu. Es sind Hirschfelds Fragen, die den Jungen bei der Stange halten: Warum reagiert jemand so und nicht anders? Was ist in der Szene zuvor geschehen? Zum Schluss wird geprobt, wie Frithjof, allein mit seiner Mimik, das Publikum fesseln kann. Dreimal soll er als Gavroche beschossen werden, bevor der stirbt. Zuvor sammelt er, ängstlich um sich schauend, die Munition ein. „Stell Dir vor, die Zuschauer sind Leute, die auf Dich schießen könnten“, sagt Hirschfeld, um dem Kind die überall lauernde Gefahr deutlich zu machen. Auf dem Gesicht des jungen Schauspielers muss zu erkennen sein, wie sich „deine Sensoren ganz scharf stellen“. Dann folgt der erste Schuss: Vom ängstlichen Umherblicken muss Frithjof umschalten, sich zunächst erschrecken, um dann richtig wütend zu werden. Der zweite Schuss trifft ihn ins Knie: Mit verzerrtem Gesicht und lang anhaltendem Schmerzensschrei soll Frithjof das Publikum mitfühlen lassen. Der letzte Schuss wird dann tödlich sein. Aber die Sterbeszene in „Heldenpose“ ist erst bei der nächsten Probe dran. Frithjof wälzt sich jetzt schon mal, übertrieben und in Wild-West-Manier, am Boden. Nach 90 Minuten intensiver Theaterarbeit wirken Lehrer und Schüler erschöpft – aber auch zufrieden.
Karsten Sawalski
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