DICHTER Dran: wir machen durch bis morgen früh, ja früh
Der Countdown läuft. Mir bleibt noch eine Woche bis zur Krise.
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Der Countdown läuft. Mir bleibt noch eine Woche bis zur Krise. Das Wort wird wieder gern benutzt, um vom nahenden Weltuntergang zu unken. In meinem Fall gibt es nichts zu unken; die Babelsberger Livenacht trifft mit Sicherheit ein. Sie findet direkt in meiner Nähe statt. Ich kann der Bierschlange auf den Kopf spucken. Merkt aber keiner vor Alkoholseeligkeit.
In den ersten Jahren habe ich noch versucht, mitzusingen. Aber das ist sinnlos, wenn man die eigene Stimme nicht hört. Für dieses Jahr hab’ ich einen Ohrstöpseltest gemacht. Apotheken sind ja das Gesicht von Babelsberg. Ansonsten hat sich B-Berg noch nicht entschieden zwischen Ramsch und WMF. Während Potsdam langsam auf eine anspruchsvolle Ladenkultur zusteuert, gehen hier dauernd Läden ein, weil sie das, was die Nachbarn machen, nochmal, bloß nicht besser, machen. Damit trotzdem viele Leute hier langlatschen, gibt’s die Livenacht. Was sie zurücklassen, ist vor allem Urin. Ich werde den Hauseingang diesmal mit Katzenstreu präparieren.
Mein Test erbrachte trübe Ergebnisse. Schaumstöpsel halten nicht. Laser Light schützen nur gegen Wind. Knetstöpsel sehen so sexy aus wie hautfarbene Unterwäsche. Die neongrünen Lamellenplugs, die ins Ohr geschraubt werden, hielten meiner Wirklichkeitssimulation mit einem Schlagersender sekundenlang stand, bevor sich die fröhliche Schmerzensmusik deprimierend hinterherschraubte, von den Lamellen verstärkerartig aufgebläht. Einer der Stöpsel saß unglücklicherweise so tief, dass er immer noch steckt. Ich kann nur hoffen, dass sich das Zeug schneller zersetzt als Atommüll.
Gestern haben die Handwerker auch noch meine Fenster zur Generalüberholung ausgehängt. Sie sollen Ende nächster Woche wieder drin sein. Sonst bliebe nicht einmal Doppelglas zwischen mir und dem Countrypop mit übersteuerten Bässen.
Vielleicht fahre ich doch in die Uckermark. Ich muss nur eine Ausfallstraße erwischen, die nicht verstopft ist von Anwohnern mit der gleichen Idee. Ob ich es schaffe, zur Oberbürgermeisterwahl zurück zu sein, ist unklar. Schlussfolgerung: Stadtteilfeste schöner zu machen fördert die Wahlbeteiligung.
Unsere Autorin Antje Rávic Strubel lebt und arbeitet als Schriftstellerin und Übersetzerin in der Brandenburgischen Landeshauptstadt Potsdam. Für ihren 2007 erschienen Roman „Kältere Schichten der Luft“ erhielt sie zahlreiche Auszeichnungen.
Antje Strubel
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