Landeshauptstadt: Wir mussten eine Zeitbombe entschärfen
Vor 15 Jahren besetzten Bürger die Potsdamer Stasi-Zentrale / PNN-Gespräch mit Manfred Kruczek
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Vor 15 Jahren besetzten Bürger die Potsdamer Stasi-Zentrale / PNN-Gespräch mit Manfred Kruczek Am 5. Dezember jährt sich zum 15. Mal der Tag, an dem Potsdamer Bürgerinnen und Bürger die Zentrale der Bezirksbehörde der DDR-Staatssicherheit in der Hegelallee besetzten. Sie waren an diesem Tag als Mitglied des Bürgerkomitees dabei. Was hat sich an diesem denkwürdigen Tag genau abgespielt? Mit einer Abordnung des Neuen Forums betrat ich zwischen zehn und halbelf die Amtsstube von Oberbürgermeister Manfred Bille. Von Billes Telefon aus rief ich Ute Samtleben an, weil ich es für wichtig hielt, dass auch Medienvertreter mit zugegen waren. Sie kam dann auch gleich und war mit dabei wie Rudolf Tschäpe, Detlef Kaminski und Annette Flade. Bille saß apathisch auf seinem Stuhl und wirkte wie erlöst, als ihm jemand sagte, wo es jetzt langgehen würde, denn er hatte ja keine Anweisungen mehr bekommen. Wir beendeten die Funkstille aus dem Rathaus und forderten über seine Dienstleitung die Staatsanwaltschaft und Volkspolizei auf, zur Besetzung der MfS-Zentrale in der Hegelallee eine Sicherheitspartnerschaft mit den Leuten vor Ort einzugehen. Dieser Aufforderung kamen sie umgehend nach. Als der Bezirksstaatsanwalt Bernd und die Polizei in der Hegelallee angerückt waren, begann Punkt 11.30 Uhr die Kontrolle aller Ein- und Ausgänge. Nach direkten Verhandlungen einer Delegation von uns mit dem Potsdamer Stasi- beziehungsweise Nasi-Chef Schickardt und dem VP-Oberst Griebsch. Gegen 12.30 Uhr durften nicht nur zehn, wie ursprünglich ausgehandelt, sondern die inzwischen eingetroffenen hundert Bürger diesen gefürchteten Komplex betreten. Gegen Abend waren es dann Hunderte von Bürgern, welche die Versiegelung von Räumen und die Sicherung von Akten unterstützten. Ich befand mich in einem Raum mit sechs „Tschekisten“, die nicht sagen wollten, welche Aufgaben sie hatten. Es stellte sich heraus, dass es sich um die Abteilung Innere Abwehr, sprich Telefonüberwachung, handelte Blieben Sie bis zum Abend in der Stasi-Zentrale? Gegen 14 Uhr musste ich raus, wir hatten eine Verabredung als Verhandlungskommission. Dabei waren unter anderem Rainer Speer, Detlef Kaminski, Annette Flade, Ute Samtleben Heidrun Liepe und ich. Die Verhandlung fand mit dem Vorsitzenden des Rates des Bezirkes Herbert Tzschoppe und anderen statt, um einen kontrollierbaren Modus der Stasi-Auflösung zu vereinbaren. Der Modus sah vor, am 6. Dezember das Bürgerkomitee Rat der Volkskontrolle (RVK) zu gründen. Das klingt nach dem Slogan „Alle Macht den Räten" aus der russischen Oktoberrevolution. Bestanden solche Vorstellungen? Erster Vorschlag war damals Kontrollrat, wir hatten aber nicht die Zeit zu diskutieren und verständigten uns dann auf den Begriff Bürgerkomitee Rat der Volkskontrolle. Der Rat bestand ja sowohl aus systemtragenden, also SED-abhängigen Organisationen, als auch den neuen Gruppierungen wie Neues Forum, SDP und verschiedene Kirchengruppen. Wir haben dem von der SED über Jahre missbrauchten Volksbegriff seine eigentliche Identität wiedergegeben, allerdings mit 40-jähriger Verspätung. Auf uns lastete der große Druck, die gewaltlose Auflösung der Stasi, des Garanten eines totalitären Systems, zu bewerkstelligen. Wir wollten das Versteckspiel von Stasi-Oberstleutnant Fremde sowie den Vertretern von Modrows Regierungskommission um die Objektliste mit allen Stasi-Liegenschaften beenden. Wir hatten zu diesen Objekten viele Hinweise aus der Bevölkerung und wollten diesen natürlich nachgehen. Die meisten Noch-DDR-Bürger waren damals damit beschäftigt, die Vorzüge des Mauerfalls zu genießen und ihr Begrüßungsgeld abzuholen und auszugeben... Hundert DM auszugeben, war schon 1989/90 nicht so zeitraubend. Auch ich habe damals parallel zur friedlichen Revolution nach 28 Jahren Unterbrechung endlich wieder Hertha BSC spielen sehen, in der Deutschlandhalle ein Westernhagen-Konzert erlebt, erstmals im Familienurlaub die Alpen gesehen und bin beim Berlin-Marathon durchs Brandenburger Tor gelaufen. In dieser Euphorie haben oftmals vier Stunden Schlaf ausgereicht. Das ging vielen so, denn auch bei der Besetzung der Stasi-Zentrale am 5. Dezember schwoll die Menschenmenge bis zum Abend immer mehr an. Es waren mehrere Hundert dabei und die haben uns unterstützt durch ihre Masse. Wie sind Sie in den Kreis der Stasi-Besetzer gekommen? Ich kannte Rudolf Tschäpe aus den ökumenischen Kirchen- beziehungsweise Friedenskreisen und vielen gemeinsam organisierten Veranstaltungen seit Jahren gut. Am Morgen des 5. Dezember erreichte mich sein Anruf, vor der geplanten Stasi-Besetzung zum Oberbürgermeister der Stadt Potsdam mitzukommen, weil ich die staatlichen Machtstrukturen im Bezirk Potsdam ganz gut kennen würde. Meine Kenntnis hing mit meiner früheren Tätigkeit als Revisionsinspektor auf Bezirksebene zusammen. Später erfuhr ich aus den Akten, dass meine 1986 konstruierte Entfernung aus dem Staatsapparat nachweislich auf die vom MfS angeordneten Maßnahmen auf die wörtlich: „Herauslösung des Kruczek als personellen Unsicherheitsfaktor“ zurückzuführen war. Das war ein Nebenprodukt der Verurteilung meines Freundes und Kollegen Alexander Richter zu sechs Jahren Zuchthaus in Brandenburg wegen eines unveröffentlichten Buches über Amtsmissbrauch und Korruption der so genannten SED-Eliten. Das Bürgerkomitee bediente sich bei der Stasi-Besetzung der Autorität der Volkspolizei. Warum war das nötig? Es bestand in diesen Tagen und Wochen ein machtpolitisches Vakuum. Die alten Machthaber waren zwar durch das Volk delegitimiert, aber noch durch einen bewaffneten MfS-Apparat und verschiedener Einsatzgruppen geschützt. Wir mussten also eine Art Zeitbombe entschärfen, zumal bei jeder Potsdamer Demo die Stasi-Raus-Rufe lauter wurden. Die Demos endeten meist in der Hegelallee und die kleinste Provokation hätte der Stasi als Vorwand dienen können, hier einzugreifen. Daher die Kontrolle aller Eingänge – immer legalisiert durch die Volkspolizei als Besetzung in geordneter Form. Es ist schon bemerkenswert, dass in einer politisch so polarisierten Stadt wie Potsdam die Opfer von damals sich nicht als Sieger gebärdeten, sondern Würde zeigten und andere nicht verletzten, so dass es nicht zu Ausschreitungen kam. Die Erinnerungen an diese Ereignisse verblassen immer mehr ... sind aber durch meine handschriftlichen Aufzeichnungen gestützt. Denn die Erinnerung ist wichtig. Die Leute, die in Bautzen und anderswo saßen, haben mehr als Zivilcourage bewiesen. Statt verklärender Ostalgieshows mit Anpassungsfähigen im ehemaligen DDR-Staat, gehören diese Unangepassten in die Medien und als Zeitzeugen in die Schulen, damit Diktaturen nicht weiter verharmlost werden können. Wichtig ist auch die Bewahrung der Dokumente. Meine letzte Stadtverordneten-Anfrage hatte ergeben, dass die Unterlagen des Bürgerkomitees im Stadtarchiv nicht mehr aufzufinden sind. PNN-Recherchen ergaben dann, dass sie sich in der Birthler-Behörde befinden. Aber die Stadt hat sie bis heute nicht zurückerbeten. In diesem Zusammenhang finde ich es besonders ernüchternd, dass in den vergangenen fünfzehn Jahren weder ein Historiker noch ein Schülerprojekt oder jemand anderes die Unterlagen vermisst hat, also sich mit diesem Teil der Stadtgeschichte, der ja ganz prägend war, beschäftigt hat. Anderswo gibt es ein gesundes Geschichtsbewusstsein. So bin ich vom Bürgerkomitee Leipzig vom 4.bis 6. Dezember zu einer Tagung aller 15 Bürgerkomitees nach Leipzig eingeladen worden, um die damalige Zeitwende zu analysierten und zu würdigen. Was erwarten Sie von den damaligen Mitstreitern, die heute an den Hebeln der Macht sitzen? Dass sie bestimmten Grundüberzeugungen treu bleiben. Eine Mentalität, die zum Beispiel durch die Trennungsgeldaffäre zutage tritt, gefährdet das Demokratieverständnis gerade im Osten. Weil Demokratie ein so wertvolles Gut ist, kommt es darauf an, solchen Dingen den Kampf anzusagen. Das ist auch die Aufgabe unabhängiger Bürgerbewegungen. Manfred Kruczek (54), Stadtverordneter des Neuen Forums bzw. Bürgerbündnisses von 1990 bis 2003, arbeitet derzeit als Breitensport-Referent im Landesbildungsministerin.
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