WIEDEMANN bildet: Wissensproduktionen im digitalen Zeitalter
Vor zehn Jahren ist das Internetprojekt Wikipedia gestartet worden, das Online-Lexikon, das heute wahrscheinlich von mehr Nutzerinnen und Nutzern gebraucht wird als die lexikalischen Großprojekte meiner Kindheit und Jugend. Wikipedia wird inzwischen fast selbstverständlich als Quelle in wissenschaftlichen Qualifizierungsarbeiten verwendet und akzeptiert.
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Vor zehn Jahren ist das Internetprojekt Wikipedia gestartet worden, das Online-Lexikon, das heute wahrscheinlich von mehr Nutzerinnen und Nutzern gebraucht wird als die lexikalischen Großprojekte meiner Kindheit und Jugend. Wikipedia wird inzwischen fast selbstverständlich als Quelle in wissenschaftlichen Qualifizierungsarbeiten verwendet und akzeptiert. Diese Form einer demokratischen Produktion und Verwaltung von Wissen hat meine Sympathie, weil Wikipedia zum Beispiel deutlich macht, dass Wissensproduktion immer ein Prozess ist und nicht etwas Abgeschlossenes sein kann. Wenn ich zum Beispiel Hochschule für Film und Fernsehen Potsdam eingebe, kann ich sehen, dass der im August 2004 erstmals eingestellte Beitrag inzwischen mehrfach aktualisiert wurde und inzwischen in einer Version vom 12. Januar 2011 vorliegt. Natürlich führt so ein Prozess auch bei mir zu einem gewissen Misstrauen: Was sind das für Autorinnen und Autoren, die zum Beispiel eine quasi weltweit gültige Definition über die HFF Konrad Wolf oder auch über meine Person vorlegen? Gleichzeitig beruhigen mich aber die Ergebnisse, die nach meinen Erfahrungen keine groben Schnitzer enthalten.
Ich finde es wichtig, dass seit Mai 2001 fast 2,2 Millionen Artikel für diese Enzyklopädie in deutscher Sprache entstanden sind und dass es derzeit rund 260 Sprachversionen mit mehr als 17 Millionen Einträgen gibt, die ich alle nutzen könnte. Aber auch eine demokratische Wissensproduktion, wie gedruckte Lexika übrigens auch, kann an Grenzen seiner Aktualität stoßen. Das Thema Potsdam als Stadt des Films findet zum Beispiel noch nicht bei Wikipedia statt, aber mich erreicht die Aufforderung, etwas dazu zu erstellen. Wie überhaupt die ständige Aufforderung, doch einzelne Beiträge zu bearbeiten (was manchmal notwendig wäre) bzw. neue Beiträge zu erstellen, ständig den Prozesscharakter von definierten Wissensbeständen deutlich macht.
Dieser Prozesscharakter von tatsächlich oder auch nur scheinbar definierten Wissensbeständen bringt mich mal wieder zu einer Premiere des Hans Otto Theaters das bei Wikipedia seit dem Oktober 2006 vertreten ist), nämlich die von „My Fair Lady“. „Kann denn die Kinder keiner lehren, wie man spricht, die Sprache macht den Menschen – die Herkunft macht es nicht?“ singt auch der Potsdamer Prof. Higgins und macht uns in einer sehens- und hörenswerten Inszenierung auf ein keineswegs historisches Problem von Schulbildung aufmerksam. Denn die von mir so gewürdigte demokratische Wissensproduktion im Netz verlangt natürlich auch eine Beherrschung der Sprache. Wenn ich auch bei eventuell falsch geschriebenen Suchbegriffen manchmal mit der netten Frage: „Meinten Sie?“ auf den richtig geschriebenen Begriff hingewiesen werde, Elizas Slang würde Google wahrscheinlich auch nicht automatisch auf die gemeinten Begriffe bringen können, aber bei „Es jrient so jrin“ werde ich bereits gefragt, ob ich „Es grünt so grün“ meinte? Das Netz als Erzieher in Sachen Rechtschreibung und Grammatik, „det wäre wunderschön“, oder?
Unser Autor Dieter Wiedemann ist seit zehn Jahren Präsident der Hochschule für Film und Fernsehen Babelsberg. Er hat zahlreiche Publikationen zu Film und Fernsehen sowie zur Aufarbeitung und Wertung des DEFA-Filmerbes und des DDR- Kinderfernsehens verfasst.
Dieter Wiedemann
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