zum Hauptinhalt

Landeshauptstadt: Wo Notwehr endet

Umstrittenes Strafverfahren gegen in Potsdam lebenden Türken wird eingestellt

Stand:

Ein Familienvater, der sich gegen aggressive Jugendliche und ihre rassistischen Sprüche wehrt – mit einem abgeschraubten Tischbein: Die Frage, ob das noch Notwehr ist oder eine gewalttätige Straftat, hat gestern das Potsdamer Landgericht beschäftigt. Am Ende einigten sich die Beteiligten auf die Einstellung des Verfahrens: Die Schuld des Täters sei so gering, dass kein öffentliches Interesse mehr an der Verfolgung der Tat bestehe.

In dem Fall ging es um den 48 Jahre alten Musa E. und einen Vorfall am 18. März 2007. Laut Zeugenaussagen standen an diesem Sonntag mehrere Jugendliche an einer Haltestelle in der Nähe des Wohnhauses von Musa E., ein Mädchen aus der Gruppe erhielt in diesem Augenblick anzügliche Handy-Anrufe. Die Jugendlichen fühlten sich beobachtet – ihr Blick fiel auf Musa E., der gerade am Fenster stand, weil er für seine Frau und seine beiden Kinder Essen kochen wollte. Einige der Jungen wähnten in ihm allerdings den Anrufer, beschimpften ihn, drangen in das Haus ein, traten gegen seine Tür, wollten mit ihm kämpfen. Der in der Türkei geborene Musa E. rief bei der Polizei an, als aber nach mehr als einer Stunde noch kein Beamter zu sehen war, schraubte er ein Tischbein ab und öffnete seine Wohnungstür. Einer der Jugendlichen gab an, Musa E. habe ihn mit dem Tischbein an Rücken und Arm verletzt und sei ihm noch hinterher gerannt.

Das Potsdamer Amtsgericht war dieser Schilderung im Februar vor einem Jahr gefolgt und hatte Musa E. wegen gefährlicher Körperverletzung zu fünf Monaten Haft auf Bewährung verurteilt. Dagegen wurde das Verfahren gegen einen der Jugendlichen, dem Beleidigung vorgeworfen wurde, ohne Auflagen eingestellt. Musa E. ging gegen das Urteil vor, er empfinde es „zutiefst ungerecht“. Und der Potsdamer Verein Opferperspektive, der den Türken als Betroffenen einer rassistischen Straftat betreut, nannte die Entscheidung am Amtsgericht einen „kleinen Skandal“.

Bei der Verhandlung gestern versuchte Musa E. denn auch, dem Gericht seine Sicht der Dinge zu schildern. Dazu gehört etwa ein Gutachten, das ihm eine posttraumatische Belastungsstörung bescheinigt: Vor seinem Asylgesuch in Deutschland saß er mehrere Jahre lang in türkischer Haft, weil er sich bei der linksextremen „Revolutionären Volksbefreiungspartei-Front“ engagierte, die in Deutschland verboten ist. Während seiner Zeit im Gefängnis sei er gefoltert worden, sagte Musa E. gestern. Auch fragte er Richterin Sabine Schwesig: „Darf sich ein Opfer alles gefallen lassen?“ Gleichzeitig beschuldigte Musa E. insbesondere die 2007 ermittelnden Polizisten, der Angriff auf ihn sei „verharmlost“ worden.

Richterin Schwesig sagte, sie habe grundsätzlich „Verständnis“ für die Situation des Angeklagten. Allerdings stehe die Frage für das Rechtssystem, ob die Art und Weise der Verteidigung von Musa E. angemessen sei. Eine zunächst von ihr vorgeschlagene Einstellung des Verfahrens gegen Sozialstunden lehnte Musa E. aber ab, dies sei kein Freispruch. Nach stundenlanger Verhandlung folgte das Gericht seiner Auffassung – die Einstellung ohne Sozialstunden. HK

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
console.debug({ userId: "", verifiedBot: "false", botCategory: "" })