Landeshauptstadt: Wo Taubblinde Orgel spielen
99 Jahre alt ist die Kirche im Zentrum von Babelsbergs großer Sozialstadt Oberlin
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99 Jahre alt ist die Kirche im Zentrum von Babelsbergs großer Sozialstadt Oberlin Kirchen beherrschen seit Jahrhunderten die Silhouetten unserer Städte und Dörfer. Sie sind Zeugen einer geistig-kulturellen Entwicklung und offenbaren die Vielfalt des religiösen Lebens unterschiedlicher Konfessionen. Das gilt auch für die Landeshauptstadt Potsdam und ihre eingemeindeten Dörfer. Was aber geschieht heute in diesen Kirchen? Was bewegt die Menschen, die sich in einer Kirche zusammenfinden? Die PNN-Serie „Kirchliches Gemeindeleben“ geht diesen Fragen nach und versucht ein Bild zu zeichnen vom Engagement in den Kirchen der Stadt und ihrer neuen Ortsteile. Sie berichtet auch vom Zusammenspiel verschiedener christlicher Strömungen, die sich in der Ökumene wiederfinden. Heute: Die Oberlinkirche. Von Lutz Borgmann Am letzten Freitag in Babelsberg auf dem Gelände des Oberlinhauses: Noch zehn Minuten bis 13 Uhr. Vor den geöffneten Türen der neugotischen Backsteinkirche, die von der Straße nicht zu sehen ist, drängen sich Mädchen und Jungen zu Fuß oder in Rollstühlen mit ihren Betreuern. Sie kommen zur wöchentlichen Schlussandacht. Sie alle sind körperlich oder geistig behindert, manche auch mehrfach behindert. Sie besuchen die Förderschule des Oberlinhauses. Verena Lehmann, eine Lehrerin, begrüßt die rund 80 Gottesdienstbesucher und entzündet eine Kerze für die Geburtstagskinder der vergangenen Woche. Dann begleitet die Orgel das erste Lied. Die Mädchen und Jungen singen und klatschen kräftig mit. Dann hören sie ein Kapitel aus der Schöpfungsgeschichte In einer der hinteren Bankreihen sitzt Pfarrer Friedrich-Wilhelm Pape, Direktor des Oberlinhauses seit 1984. Viele der Jugendlichen hat er mit Handschlag begrüßt, sie kennen ihn. 200 Schülerinnen und Schüler besuchen bis zur 10.Klasse die Oberlinschule, in der nach den Bildungsplänen einer Realschule unterrichtet wird. Das Pensum wird individuell dem Grad der Behinderung angepasst. Im kommenden Jahr kann die Oberlinkirche ihr 100-jähriges Bestehen feiern. Der Potsdamer Architekt Ludwig von Tiedemann errichtete sie auf dem Gelände des 1874 im Industrieort Nowawes entstandenen Oberlinhauses, das mit seiner Betreuung und Rehabilitation von Taubblinden und Körperbehinderten über die Grenzen Deutschlands hinaus bekannt wurde. Noch heute ist die Kirche geistlicher Mittelpunkt der „Werkgemeinde“. Etwa 55 Prozent der rund 900 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Oberlinhauses gehören der evangelischen Kirche an. Montags versammeln sie sich hier zu einer Andacht. An verschiedenen Wochentagen kommen die Kindergruppen aus dem Taubblindenheim in die Kirche, „spielen“ auf der Orgel und „erleben“ den Raum. In den Sommermonaten wird „Musik bei offener Kirchentür" veranstaltet. Jedermann ist eingeladen einzutreten oder im Vorübergehen zuzuhören. Ein Angebot, das gern von den Patienten der orthopädischen Klinik genutzt wird. Der Sonntagsgottesdienst findet um 10 Uhr statt. Einst richtete sich dieser Zeitpunkt nach dem Tagesablauf der Diakonissen, die im Oberlinhaus tätig waren. Jetzt wird die Tradition auch in der liturgischen Ausgestaltung des Gottesdienstes bewahrt. Darüber hinaus dient die Kirche der Gemeinde aus dem Zentrum-Ost als Predigtkirche und Versammlungsstätte. Den Zweiten Weltkrieg überstand die Kirche ohne größere Beschädigungen. Doch auch die Zeit hinterlässt ihre Spuren. So bedarf die ebenfalls hundertjährige Sauer-Orgel, die 1941 und 1952 umgebaut wurde, dringend der Erneuerung. Der Oberlinverein hofft, dass die erforderlichen 120000 Euro durch Spenden zusammen kommen, denn zur Hundertjahrfeier der Kirche am 12. Januar 2005 soll die erneuerte Königin der Instrumente wieder erklingen
Lutz Borgmann
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