
© Michael Urban/ddp
Von Bernd Kluge: Wohngemeinschaft mit Kleist
Rund 200 Schüler gestalten in Frankfurt ein ungewöhnliches Kunstprojekt / Anzuschauen bis Jahresende
Stand:
Frankfurt (Oder) - Ein altertümlicher Schreibtisch steht in einem Raum, dessen Fenster den Blick auf die Frankfurter Marienkirche freigibt. Auf der Arbeitsplatte liegt ein mit Federkiel und schwarzer Tinte beschriebenes Blatt Papier. „Lieber Heinrich, ich wünsche Dir in Deinem Arbeitszimmer viel Ruhe, Entspannung und Ideen“, hat Gymnasiast Christoph Rieger da an den Dichter Heinrich von Kleist (1777-1811) geschrieben.
Das Gebäude, in dem dieser Schreibtisch steht, befindet sich genau an jener Stelle mitten in Frankfurt (Oder), an der einst Kleists Geburtshaus stand. Es beherbergt 15 Räume einer künftigen Kleist-Wohngemeinschaft, die bis zum Sommer von Schülern und Studenten aus Frankfurt, Fürstenwalde und Potsdam gestaltet wird.
Unter dem Motto „Kleist – Leben, Werk und Wirkung“ entsteht auf 500 Quadratmetern ein wohl einmaliges Kunstprojekt. In Einzel- und Gruppenprojekten beschäftigen sich Jugendliche mit Kleists Biografie oder lassen sich von seinen Texten inspirieren. „Jeder Raum entwickelt so sein eigenes Flair dieser intensiven Auseinandersetzung mit Kleist“, sagt Dalchau. Der Frankfurter Gymnasiast Christoph Rieger beispielsweise richtete „Kleists Arbeitszimmer“ ein. Auch wenn außer dem Arbeitstisch nicht viel Inventar darin steht – Bücherregal, Sofa und Kamin hat er so realistisch an die Wände gemalt, dass erst bei genauerem Hinschauen auffällt, dass sie nicht echt sind.
Ausgedacht hat sich diese Art der Auseinandersetzung mit dem berühmtesten Sohn der Stadt die Museumspädagogin Christine Dalchau aus dem Kleist-Museum. Ein Frankfurter Wohnungsunternehmen stellte Räume in einem leerstehenden Wohngebäude bereit. „Kleist hatte ja praktisch nie eine eigene Wohnung, war ständig auf Reisen. Bei uns bekommt er jetzt eine Bleibe“, sagt die Museumspädagogin, die sich mit ihrer Idee an Schulen gewandt hat. Die Lehrer hätten ihr das Angebot förmlich aus den Händen gerissen, innerhalb von 14 Tagen seien alle 15 Räume vergeben gewesen.
„Wusstest Du, dass...“, steht mit schwarzer Schrift über dem Eingang zu einem früheren Toilettentrakt inner halb des WG-Komplexes. „Zwei Schülerinnen einer zwölften Klasse haben sich hier mit Fakten über Kleist auseinandergesetzt, die nicht so bekannt sind“, sagt Dalchau. So erfährt der Betrachter, dass der Dichter im Gefängnis saß und blickt durch Gitterstäbe in eine angedeutete Zelle. Und dass die Schülerinnen eine Toilettenzelle rosa angestrichen haben, ist der Museumspädagogin zufolge ein Hinweis auf Kleists angebliche Homosexualität.
Insgesamt fünf Räume in der Kleist-WG sind bereits fertig und zeigen nach Ansicht der Museumspädagogin eine völlig andere Herangehensweise an den Dichter, als es üblicherweise in Museen der Fall ist. „Diese Art der Darstellung könnte gerade jungen Leuten die Hemmschwelle nehmen, um sich mit Kleist zu beschäftigen“, sagt Kunstlehrer Winfried Bellgard. Er steht mit seinen 13 Schülern einer 12. Klasse des Frankfurter Karl-Liebknecht-Gymnasiums noch ganz am Anfang des Projekts, für das sie sich zwei Räume der Kleist-WG haben reservieren lassen.
„Lebensräume und Alltagskultur sind laut Lehrplan Schwerpunkt im zweiten Halbjahr. Da passt die Kleist-WG prima rein“, sagt Bellgard. Sein Schüler Sebastian könnte sich Licht- und Schattenspiele als reizvolle Umsetzung vorstellen, Mitschülerin Anja würde lieber Figuren aus Kleists bekanntesten Werken reliefartig „aus den Wänden treten“ lassen. Allerdings müssen die Gymnasiasten ranklotzen, denn bis zum Sommer dieses Jahres soll das Kunst-Projekt abgeschlossen und ab 1. September für Besucher zugänglich sein.
Auch wenn sich die Museumspädagogin hier einen dauerhaften Ableger des Frankfurter Kleist-Museums vorstellen könnte, ist die Kleist-WG letztlich nur ein Projekt auf Zeit. Bis zum Jahresende können die von dann etwa 200 Jugendlichen gestalteten Räume besichtigt werden.
Danach, also im eigentlichen Kleist-Jubiläumsjahr 2011, wird das Wohnhaus saniert und neu vermietet.
Bernd Kluge
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