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Landeshauptstadt: Wundertüten für Erwachsene

Schmuck oder Schmutzwäsche: Bei der Kofferauktion weiß der Bieter erst nach dem Zuschlag, was drin ist

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Schmuck oder Schmutzwäsche: Bei der Kofferauktion weiß der Bieter erst nach dem Zuschlag, was drin ist Von Nicola Klusemann Er ist groß, schwarz, schwer. 50 Euro Mindestgebot möchte der Aktionator Heinz-D. Wendt für den Koffer plus Inhalt haben. Das prall bepackte Gepäckstück wird mit einem Nylonband zusammengehalten, bedruckt mit der Wörterkette Japan-Japan-Japan „50 Euro sind geboten“, hält Wendt den Hammer wie einen verlängerten Achtung-Zeigefinger. „60, 70 hier vorne. 80 der Herr dort hinten. 80 und niemand mehr, 80 zum Ersten, zum Zweiten, zum Dritten.“ Der kleine Auktionshammer schnellt mit gellem Knall auf die Tischplatte. Das Geschäft ist besiegelt. Hunderte Neugierige und Schaulustige kamen gestern zur Kofferauktion der Lufthansa in die Potsdamer Bahnhofspassagen. Auf Reisen verloren gegangene Gepäckstücke türmten sich hinter dem Auktionator. „In Deutschland müssen die Fundgegenstände öffentlich versteigert werden“, erläutert Wendts Frau Birgit, selbst seit acht Auktionatorin. Jedes Land habe da seine eigenen Bestimmungen. Das Darmstädter Auktionshaus auf jeden Fall den Auftrag, ohne Koffer wieder in den Rhein-Main-Raum zurückzukehren. „Das haben wir bis jetzt immer geschafft“, sagt Birgit Wendt. Dazu hat ihr Mann gestern und heute je acht Stunden Dauerredefluss Zeit. Wer einmal oben sitze, erklärt die Auktionatorin die harten Sitten, müsse durchhalten. Zahlenkolonnen in Zehnerschritten, eingestreute Anekdoten aus seiner Vierteljahrhundert-Erfahrung als Auktionator, witzige Kommentare. Der Entertainer muss das Publikum bei Laune halten. Damit die Stimme mithält, lässt sich der Mann mit dem Hammer etwas zu Trinken bringen und hat sich zur Stärkung Traubenzucker und Halstropfen bereit gelegt. Der Erlös aus den Zuschlägen gehe an den Auftraggeber, die Lufthansa. Mit den zusätzlich verlangten 18 Prozent Aufschlag, bezahle man „Brötchen, die mithelfenden Studenten“ und natürlich den eigenen Aufwand, so Birgit Wendt. Bevor die Gepäckstücke unterm Hammer landen, wurden sie geöffnet, geprüft, gelagert. In der Mehrzahl sind es fehl geleitete Koffer und Taschen, die unabgeholt ihre traurigen Runden auf dem Gepäckband der Flughäfen dieser Welt drehten. Drei Tage nach ihrer Ankunft in der zentralen Sammelstelle in Frankfurt/Main werden sie geöffnet. Gesucht wird zunächst nach Dokumenten, die Hinweise auf den Besitzer geben. Inhalt und Aussehen des Reisegepäcks wird mit Angaben im Zentralregister in Atlanta verglichen. In einem großen Rechner in Übersee werden die Beschreibungen aus den Verlustanzeigen der Passagiere gesammelt. „Viele wissen nicht genau, wie ihre Koffer ausgesehen haben oder was drin war“, wundert sich Auktionatorin Wendt. Deshalb können jährlich rund 8000 verlorenen Gepäckstücke von Lufthansa-Kunden nicht zugeordnet werden. Nicht viele, wenn man bedenkt, dass die deutsche Luftgesellschaft im Jahr rund 45 Millionen Passagiere befördert. Der Reiz an der Kofferversteigerung: Sie wechseln samt Inhalt ihren Besitzer. Ob Schmuck, Schmutzwäsche oder Schundliteratur, erst nach dem Zuschlag erfährt der Bieter, was drin ist. „Wundertüten für Erwachsene“, scherzt Heinz-D. Wendt, der sichtlich Spaß an der Spannung hat. Richtig böse Überraschungen gibt es allerdings nicht. Die Gepäckstücke werden vor ihrer Versteigerung nach Waffen, Drogen und Sprengstoff durchsucht. Verderbliche Lebensmittel und nasse Wäsche werden entfernt, bevor die Sachen drei Monate in einem beheizten Keller lagern – Frist für den Alteigentümer. „IIIhhh“, entfährt es einer der Auktionsgehilfinnen, als sie den Reißverschluss einer dunkelblauen Reisetasche öffnet. Für die Schaulustigen im Publikum werden ein paar der übel riechenden Kleidungsstücke herausgerupft: Ein zerknittertes geblümtes Kleid, dreckige Socken. Heinz Wendt wedelt sich Frischluft zu und bittet um schnelle Gebote. Seine Augen registrieren jede Zuckung im Publikum. Eine Frau erbarmt sich und bekommt sofort den Zuschlag, mit dem Hinweis: „Öffnen Sie die Tasche bitte erst draußen“. Andere schauen sofort nach. Schnäppchen oder Niete – das entscheidet sich meist schon beim ersten Hineinschauen. Der Bieter mit der Nummer 176 findet zwei nagelneue Neoprenanzüge im ersteigerten Hartschalenkoffer. Dafür bekam sein Nachbar mit der großen Reisetasche gleich eine ganze Reisegeschichte dazugeliefert: Polyglott, Wanderkarten, Schlafsack, Essgeschirr und Schweizer Messer – ein überblendetest. Auch einige Einzelfundament sprechen für sich. Der knuddelige Teddy-Bär hinterließ sicherlich irgendwo auf der Welt ein weinendes Kind, die Gitarre wurde vielleicht zuletzt am Strand zum Rauschen der Wellen gezupft. Ersteigert werden können aber auch im Flieger liegen gebliebene Fotoapparate, Discman oder Videokameras sowie Schmuck und Uhren – ohne Funktionsgarantie. Einmal ersteigert, muss man die Sachen nehmen. Denn Umtausch-, Reklamation- oder Rückgaberecht gibt es bei der Auktion nicht. Mit einem LKW, einem Bus und zwei Pkw ist die Familie Wendt angereist. Am heutigen Sonnabend zwischen 12 und 20 Uhr kommen noch mal so viele geheimnisvolle Gepäckstücke wie gestern unter den Hammer. Zwischen 10 und 12 Uhr ist Besichtigungszeit.

Nicola Klusemann

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