DICHTER Dran: Zimmer mit Aussicht
Seit einiger Zeit durchforste ich Immobilienseiten im Internet, kaufe Zeitungen wegen des Wohnungsmarkts und habe einen Wohnungssuchblick aufgesetzt, wenn ich unterwegs bin. Ich nehme die Stadt nur noch über die Schilder von Immobilienmaklern wahr, für alles andere bin ich blind.
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Seit einiger Zeit durchforste ich Immobilienseiten im Internet, kaufe Zeitungen wegen des Wohnungsmarkts und habe einen Wohnungssuchblick aufgesetzt, wenn ich unterwegs bin. Ich nehme die Stadt nur noch über die Schilder von Immobilienmaklern wahr, für alles andere bin ich blind. Ich suche ein Büro, das nicht wie ein Büro aussieht, eine Wohnung, die groß genug ist zum Atmen und klein genug, um die Heizkosten bezahlen zu können, ich suche eine Wohnung in der Stadt, aber umgeben von Natur, ich möchte in Ruhe schreiben und das Gefühl haben, mitten im Leben zu sein. Ich habe Dachwohnungen im Buga-Park und Bornstedt gesehen, Altbauwohnungen mit Parkett in Babelsberg, Villenetagen in der Brandenburger Vorstadt, barocke Erdgeschosswohnungen in Potsdams Innenstadt und denke ernsthaft darüber nach, Zwangsversteigerungen zu besuchen. Dauernd treffe ich Leute, denen es genauso geht. Berlin, sagen sie, sei schon völlig abgegrast. Da habe die Welt sich schon eingekauft. In Potsdam gebe es noch Hoffnung. In Potsdam hänge die Mentalität dem Reiz der Stadt noch hinterher. Man habe noch nicht begriffen, wie privilegiert das Leben hier sei. Es herrsche noch immer Provinzeinstellung. „Ist ja nur Potsdam“, sei zu hören, wenn man eine freundlichere Bedienung, einen professionelleren Yogakurs, eine elegante Bar einfordere, als sei von einer Stadt, deren Wohnungsmarkt noch nicht von Dubai aus regiert wird, nichts Besseres zu erwarten. „Ist ja nur Potsdam“, sei wahrscheinlich auch die schulterzuckende Einstellung dazu, dass in einer Landeshauptstadt kein einziger ICE halte. In Stuttgart, erklären die auswärtigen Wohnungssuchenden, hätten sich die Leute längst aus Protest ans Bahngleis gekettet, aber hier?! Also decken sie sich freudig erregt mit Immobilien ein, rechtzeitig vor der Inflation, und nähern damit die widerspenstige Mentalität der reizvollen Wohngegend immer mehr an. Ich muss mich beeilen. Sonst jage ich meinem idealen Schreibzimmer mit Aussicht bald vergeblich nach.
Unsere Autorin Antje Rávic Strubel lebt und arbeitet als Schriftstellerin und Übersetzerin in Potsdam. Für ihren 2007 erschienen Roman „Kältere Schichten der Luft“ erhielt sie zahlreiche Auszeichnungen.
Antje Rávic Strubel
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