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Von Guido Berg: Zweimal abgebrannt

Charlotte Cords, geborene Nobel, kam am 10. Mai 1910 in der Dortustraße auf diese Welt. Zusammen mit ihrem Mann führte sie bis 1945 das Restaurant „Zum Mecklenburger“ am Alten Markt. Nun wird sie 100

Stand:

„Um diese Zeit haben wir es noch nicht gewusst.“ Charlotte Cords will über früher erzählen. Aber dass es ausgerechnet dieser Tag ist , der 14. April 2010, zeitiger Vormittag. „Heute vor 65 Jahren“, sagt sie nach kurzem Innehalten, „wurden wir ausgebombt.“ Die gepflegten Hände der alten Dame klammern sich an die Sessellehnen. Die fast 100-Jährige wohnt in Bornstedt, aber sie hat sich nie trennen können von der Potsdamer Mitte, vom Alten Markt, dem Palais Barberini, wo sie ihren Johann heiratete, vom Stadtkanal, wo sie Fische kaufte, von den Fischersfrauen direkt aus dem Kahn: Frisch auf den Tisch für die Gäste des Restaurants „Zum Mecklenburger“, Alter Markt 16. Ihr Schwiegervater, Johann Cords senior, war Mecklenburger, daher der Name. An der Fassade hing ein Schild, sieben Zentner schwer, ein Ochsenkopf, das Mecklenburger Wappen. Charlotte Cords lacht: „Wo mag das wohl abgeblieben sein?“ Bevor die Familie Cords aus dem „Schultheiß“ das „Mecklenburger“ machte, bewirtschaftete sie „Die Ratswaage“ am Neuen Markt.

Als Charlotte Nobel wurde sie am 10. Mai 1910 in der Dortustraße 65 geboren. Nobels haben dort eine Schneiderei. Mit dem Nobel-Preisstifter Gustav Nobel sind sie nicht verwandt oder verschwägert. Als junges Mädchen ist Sport ihre Leidenschaft, im VfL Potsdam, dem Verein für Leibesübungen, sind sie zwölf Mädels, die Sport treiben. Charlotte Cords sagt, andere Mädchen seien immer tanzen gegangen, „für mich aber gab es nur Sport auf dem Luftschiffhafen“. 1926 wird sie Potsdamer Meisterin im Fünfkampf; sie zählt auf: Hoch- und Weitsprung, Schleuderball, 100-Meter-Lauf und Kugelstoßen. Ihr späterer Mann treibt auch Sport im VfL, 1930 heiraten sie. In einem Strick- und Konfektionswarenladen am Platz der Einheit, bis 1945 Wilhelmstraße, lernt Charlotte – noch Nachname Nobel – Verkäuferin. Sie muss die Waren ausliefern und da die Kundschaft erlesen war kennt sie noch heute in Potsdam „jede Villa“.

1930, im Jahr ihrer Heirat, kaufen Cords das Restaurant am Alten Markt. 1933 kam die Familie gerade von der Beerdigung des Schwagers, der eine Gaststätte in der Friedrich-Ebert-Straße führte, gleich neben der Großen Stadtschule. Plötzlich rief irgendwer „Hitler ist dran!“ Die Konsequenzen ahnte von den Trauernden niemand. Fünf Jahre später liegt Charlotte Cords mit Grippe im Bett, da kommt ihr Mann ins Zimmer gestürmt und ruft, „sie zerdeppern den Juden ihre Geschäfte“. An der Schwertfeger- Ecke Kaiserstraße hat ein jüdischer Herr namens Levi sein Geschäft für Herrenkleidung, was aus ihm geworden ist, ob noch rechtzeitig ausgewandert oder von den Nazis ermordet, weiß Charlotte Cords nicht. Sie erinnert sich auch an eine jüdische Hut-Macherin – „Ich war Hut-Fan“ – die zum Anmessen ins Restaurant kam. Die Frau wohnte in der Kastanienallee, das wusste sie und auch, dass ihr Mann im Konzentrationslager war. Was mag sie wohl gedacht haben, als sie sah, was auch Charlotte Cords sah? Juden, die nicht mehr laufen konnten, und daher auf Schubkarren über den Alten Markt gefahren wurden, zum Bahnhof. Ihre Tochter Rita, die ihr heute täglich das Mittagessen kocht, bringt Charlotte Cords 1939 zur Welt. Drei Töchter wird sie haben; „Gott sei dank Töchter“, sagt ihr Schwiegervater, „und kein Kanonenfutter“.

Die erste Katastrophe trifft die Cords am 10. Januar 1940. Es brennt im Restaurant, eine Mieterin im Haus war unvorsichtig. Bei 27 Grad unter Null frieren den Feuerwehrleuten die Wasserrohre ein. Charlotte Cords verteilt Rum zum Aufwärmen. Die Potsdamer Zeitung berichtet über den Brand und vermeldet, „eine Frau wird vermisst“. Charlotte Cords: „Das war ich.“ Zunächst war nicht bemerkt worden, dass sie den Flammen noch rechtzeitig entfliehen konnte.

Eineinhalb Jahre später, am 1. September 1941, öffnet das Restaurant wieder, diesmal unter dem Namen „Zum Mecklenburger“. Die Rentnerin erinnert sich noch an den neuen, modernen, 27 Zentner schweren Herd, der eingebaut wurde und 6000 Mark kostete – „ein Vermögen“. Ihr Mann ist im Krieg, Charlotte Cords führt das Restaurant: „Von morgens bis abends habe ich meinen Mann gestanden“. Das Restaurant ist beliebt, viele Reisende aus Berlin kommen extra, um im „Mecklenburger“ zu speisen. Doch durch die Währungs-Kapriolen nach dem Krieg verlieren Cords alles, „eine Viertel Million Mark“, sagt sie.

Dass es der Tag der zweiten Katastrophe würde, wussten sie nicht, so lange es noch hell war. Das Inferno am 14. April 1945 begann um 22 Uhr 16. Englische Bomber warfen 1700 Tonnen Bomben auf den Bahnhof und das Stadtzentrum. „Alles brannte lichterloh“, erinnert sich sogar Rita, die Tochter, damals sechs Jahre alt. Auch der Alte Markt 16 wird getroffen, mit nassen Tüchern oder Gasmasken vor dem Gesicht flieht die Familie in die Dortustraße, zur Schneiderei Nobel.

Johann Cords überlebt den Krieg und auch die Kriegsgefangenschaft. Abgemagert steht er eines Tages vor ihr; sie war in Bornstedt, wo Cords ein Grundstück haben, gerade beim Kartoffelschälen. Nach 1945 betreiben Johann und Charlotte Cords mehrere Restaurants, darunter die Sportlerklause in Bornim. 1969 stirbt ihr Mann; ein Foto auf ihrem Schrank zeigt ihn an einem Tisch sitzend, bei ihrem gemeinsamen Urlaub in Tirol.

100 Jahre wird Charlotte Cords am Montag. Geblieben ist ihre Leidenschaft zum Sport, nun speziell zum Fußball. Wer vergessen hat, wann ein Spiel im Fernsehen übertragen wird, kann die Dame fragen, sie weiß es. Und auch das zu hören erfreut im WM-Jahr: Wie wird man so alt? Antwort: Ab und zu ein Bier, gelegentlich ein Schnäpschen und zum Mittag gerne auch mal ein Eisbein.

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