zum Hauptinhalt
Bilingualer Ansatz. Die Doktorandin Venera Jusupowa ist selbst mit Russisch und Tatarisch groß geworden.

© Manfred Thomas

Von Anja Priewe: Zweisprachigkeit als Chance

Die Russin Venera Jusupowa forscht an der Universität zur bilingualen Spracherziehung bei Schulkindern

Stand:

Wenn es um die Vor- und Nachteile von bilingualer Erziehung geht, gibt es zwei Lager: Die einen behaupten, dass zweisprachig aufwachsende Kinder kreativer sind, schneller lernen und sich durch eine höhere Sozialkompetenz gegenüber ihren einsprachig aufwachsenden Altersgenossen auszeichnen. Die anderen vermuten hingegen, dass bilingual sozialisierte Kinder in ihrer Sprachentwicklung verlangsamt sind und keine der beiden Sprachen richtig beherrschen.

Die Wissenschaft ist sich uneinig. Neue Erkenntnisse in die Forschung bringt nun der Bericht von David March, Professor an der Universität Jyväskylä in Finnland. Im Auftrag der Europäischen Kommission wertete er und sein Team 1400 weltweite Studien zum Thema Mehrsprachigkeit und Bilingualität aus. Der Bericht macht vor allem eines deutlich: Es gibt viele Vermutungen, jedoch wenig belegte Aussagen.

Venera Jusupowa will das ändern. Seit diesem Wintersemester promoviert die 23-jährige Sprachwissenschaftlerin aus der russischen Stadt Ufa an der Universität Potsdam zum Thema „Bilinguale Sprachentwicklung bei Kindern“. Sie möchte herausfinden, ob Grundschüler, die fließend Deutsch und Russisch sprechen, auch beides gleich gut schreiben können. „Denn es ist letztendlich die schriftliche Sprachkompetenz, die über den Schulerfolg entscheidet“, weiß Venera Jusupowa zu berichten. „In meiner Arbeit geht es darum zu untersuchen, wie sich die Schriftsprache in den ersten Schuljahren entwickelt. Ob etwa die russische Sprache einen Einfluss auf die deutsche Grammatik hat und umgekehrt.“

Was Zweisprachigkeit bedeutet, weiß Venera aus eigener Erfahrung. Sie spricht Russisch als ihre Muttersprache und Tatarisch als ihre „Vatersprache“. Problematisch war das für sie nie. In ihrer Heimatstadt ist das Nebeneinander der beiden Sprachen, trotz deren Unterschiedlichkeit, selbstverständlich. „Straßenschilder, Bahnstationen und Ansagen sind bei uns stets bilingual“, sagt sie.

Als Venera vor anderthalb Jahren zunächst nach Halle kam, bereitete ihr die neue Sprache kaum Probleme: „Deutsch ist gar nicht so schwer. Es gibt viel weniger grammatikalische Ausnahmen als im Russischen.“ In Halle arbeitete Venera als Auslandskorrespondentin für die Internetzeitschrift „Baschkirien-Heute“. Zusätzlich gab sie Nachhilfe an einer deutsch-russischen Schule. Dort machte sie folgende Entdeckung: „Zwar konnten die Schüler ohne Probleme russisch sprechen, beim Schreiben hatten sie jedoch große Schwierigkeiten“, erzählt Venera.

Ein Phänomen, das ihr Professor Christoph Schröder vom Institut für Germanistik an der Universität Potsdam als „Sprachkorrosion“ bezeichnet. In diesem Fall werden bereits erworbene Regeln aufgrund der fehlenden Anwendung der Muttersprache mit der Zeit wieder abgebaut. Hier sieht Schröder erheblichen Forschungsbedarf, insbesondere für die Gruppe der älteren Kinder. „Es gibt viele Studien über Bilingualität im frühen Kindesalter. Nahezu unerforscht sind hingegen die Auswirkungen von Zweisprachigkeit mit Eintritt in die Schule“, weiß Schröder zu berichten.

Statistisch gesehen, erreichen zweisprachige Kinder zwischen acht und zwölf Jahren selten das Niveau ihrer einsprachigen Schulkameraden. Den Grund für die oftmals schlechteren Schulergebnisse in der Zweisprachigkeit zu vermuten, ist dennoch äußerst spekulativ. Dass der zunehmende Verlust der Muttersprache nicht auf eine Überforderung der Kinder mit den zwei Sprachen zurückzuführen ist, davon ist Christoph Schröder überzeugt. Vielmehr scheinen Faktoren, wie etwa die soziale Herkunft des Kindes über gute Schulleistungen zu entscheiden. Hier seien häufig Kinder mit Migrationshintergrund benachteiligt, so Schröder. Für ihn besteht kein Zweifel daran, dass Zweisprachigkeit eher Vorteile als Nachteile bringt. Vor allem die kognitiven Fähigkeiten seien bei diesen Kindern stärker ausgeprägt. „Zudem ist eine größere Sprachbewusstheit zu beobachten“, berichtet Schröder von seinen Untersuchungen.

Diese Erfahrung hat auch Venera bei ihrer Arbeit in Halle gemacht. „Bilinguale Kinder verbinden einen Gegenstand nicht nur mit einem Wort, sondern wissen, dass es mehrere Bezeichnungen gibt. Sie sind somit flexibler in ihrem Denken und besser im weiteren Fremdsprachenerwerb“, bestätigt Venera. Sie will Zweisprachigkeit als Chance und Ressource verstanden wissen. Auch Professor Schröder plädiert für eine bessere Förderung der Kinder: „Was wir brauchen, sind vor allem qualifizierte Lehrer, die keine Angst vor Fremdsprachen haben. Außerdem muss es einen sinnvollen Muttersprachenunterricht geben, der sich in das System der Schule eingliedert und nicht außen vor bleibt“, fordert er. Für die Politik sieht er hier erheblichen Handlungsbedarf. Dafür sei ein Dialog zwischen den einzelnen Parteien unerlässlich. Mit ihrer Doktorarbeit möchte Venera hierzu einen Beitrag leisten.

Für ihre Studie sucht Venera Jusupowa noch Kinder im Alter zwischen 8 bis 12 Jahren, die mit Deutsch und Russisch aufgewachsen sind. Interessierte können sich unter yusupova@uni-potsdam.de melden.

Anja Priewe

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
console.debug({ userId: "", verifiedBot: "false", botCategory: "" })