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Landeshauptstadt: Zwischen Kaiserzeit und heute

Frieda Müller aus Potsdam ist der älteste Mensch Deutschlands. Ihre 110-jährige Geschichte kann ihr Neffe, den sie zwei Jahre lang suchte, erzählen

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Frieda Müller aus Potsdam ist der älteste Mensch Deutschlands. Ihre 110-jährige Geschichte kann ihr Neffe, den sie zwei Jahre lang suchte, erzählen Zwei Jahre lang fuhr Frieda Müller mit der Bahn durch Deutschland, vorbei an Trümmern und den Ergebnissen eines sechsjährigen Weltkrieges. Ein halbes Jahrhundert Leben kannte die adrette Hutmacherin bis dahin. Sie hat die Regierungszeit von Kaiser Wilhelm II., das Ende der Kaiserzeit, den Beginn der Weltwirtschaftskrise 1929 und beide Weltkriege erlebt. Nun suchte sie das Schicksal ihrer eigenen Familie in den Trümmern, das ihres Neffen Kurt Vogt. 60 Jahre nach Kriegsende gerät die Geschichte der Frieda Müller erneut in den Vordergrund, denn die gebürtige Potsdamerin ist inzwischen der älteste Mensch Deutschlands. Sie ist Bettlägerig, ihre Haut verrät aber wenig von den erlebten 110 Jahren. Selbst das Haltbarkeitsdatum ihres Herzschrittmachers von 1979 überlebte Frieda Müller, denn der funktioniert noch heute. Am 18. Oktober möchte Kurt Vogt mit seiner Familie daher ihren 111. Geburtstag im Seniorenheim „Haus Abendstern“ in Drewitz feiern. Dann werden die bewegenden Bilder der Vergangenheit durch den Raum schweben. Denn er hat Frieda Müller vieles zu verdanken. Hamburg, München, Köln, Dresden – auf ihrem Weg durch Deutschland hatte Frieda Müller zwischen 1945 und 1947 immer einen neuen Hinweis über den Aufenthalt von Kurt Vogt in der einen und ihrer Reisetasche in der anderen Hand. Die an den Bahnhöfen ausgelegten Rotkreuz-Bücher waren ihr erster Anlaufpunkt, ihre Hoffnung auf ein gutes Ende. Bei einem Zwischenstopp in Bamberg im Jahr 1947 brachte eines der Bücher den entscheidenden Hinweis: Ein Neuzugang, auf dessen Beschreibung das Antlitz ihres Neffen passte. Eingetragen auf der letzten Seite des Buches und untergebracht im Kinderheim Streitberg – doch dort war Kurt Vogt nicht bekannt. Frieda Müller, deren Mann Bahnbeamter war und die daher mit einer so genannten Pfennigkarte durch Deutschland fahren konnte, wagte von einer Eingebung getrieben einen weiteren Besuch in diesem Kinderheim und sah beim Hereinkommen auf der Freitreppe ihren Neffen stehen. „Kurti, mein Kurti“, soll sie gerufen haben, doch Kurt Vogt konnte sich damals nicht an die Frau erinnern, die sich als seine Tante zu erkennen gab. Schwer verletzt und ohne seinen richtigen Namen kam er nach der Flucht der Familie aus Tabor allein in Streitberg an, kurze Zeit später wollten ihn zwei der Heimschwestern adoptieren. Frieda Müller aber konnte nachweisen, dass „Kurti“ Kurt Vogt war und schickte ein Telegramm an ihre Schwester, seine Mutter, nach Potsdam. Noch heute bewahrt Kurt Vogt das Telegramm auf, worauf kurz und knapp verfasst „Kurti gefunden“ stand. Eine Villa in der Charlottenstraße war das Geburtshaus von Frieda Pauline Luise Ihnenfeld, die später bei einer jüdischen Familie in Berlin Hutmacherin lernte und mit zwanzig Jahren den Bahnbeamten Wilhelm Müller heiratete. Beide bauten noch vor dem ersten Weltkrieg ein heute noch erhaltenes Haus in Stendal und waren Mitglieder im Schäferhundeverein, bevor Wilhelm Müller seinen Kriegsdienst auf der MS Scharnhorst antrat. Erinnerungsstücke von den Reisen nach Südafrika oder die Elfenbeinküste bewahrt Kurt Vogt daheim in Bergholz-Rehbrücke noch heute auf dem Kamin auf. Die dazu gehörigen Geschichten werden von Generation zu Generation überliefert. So soll „Onkel Paul“, wie Kurt Vogt ihn nannte, einmal auf Samoa beim Essen mit Häuptlingen die Ehre der deutschen Besatzung gerettet haben. Sie bekamen wie die Stammesfürsten vorgekautes Essen, sein Onkel habe es als einziger Deutscher gegessen, erzählt Kurt Vogt. Nach dem ersten Weltkrieg zogen Wilhelm und Frieda Müller nach Schweinfurth, 1958 starb der Bahnbeamte, die 44-jährige Ehe blieb kinderlos. Kurt Vogt, dessen Mutter aus Tschechien nach Potsdam floh und der dann unter anderem in der Geschwister- Scholl-Straße aufwuchs, floh kurz vor Ende der Lehre und dem Bau der Mauer in die Flüchtlingslager Kladow und später Gießen – seine Tante Frieda nahm ihn danach erneut auf. In den Achtziger Jahren zog Frieda Müller ins Haus der Vogts nach Rosenheim, jedes Jahr kamen alle gemeinsam nach Potsdam, um die Familie zu besuchen. Seit 1990 wohnen sie endgültig hier. Der Konzern von Kurt Vogt baute Strukturen in den neuen Bundesländern auf, Vogt folgte dem Ruf. Rüstig und im Auto sitzend kam Frieda Müller dadurch wieder zurück in ihre Heimatstadt – erst pflegebedürftig im Haus von Kurt Vogt und Familie wohnend, später dann im Pflegeheim Sacrow und seit 1996 im „Haus Abendstern“ lebend. Zwei Schwestern und einen Bruder hatte Frieda Müller, deren Kinder und Enkel wohnen teilweise heute noch in Berlin. Oder wie Kurt Vogt und seine Familie in Bergholz-Rehbrücke. Er kümmert sich um die 110-Jährige, denn sie sei immer wie eine Mutter zu ihm und wie die eigene Oma zu seinen Kindern gewesen, so Kurt Vogt. Heute liegt und lebt sie als ältester deutscher Mensch in ihren Gedanken versunken sowie ohne ein Wort zu sprechen im Bett.

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