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Der Ägypter Amr Bargisi ist der diesjährige Träger des Albert-Einstein-Stipendiums
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Größer können die Gegensätze, die Amr Bargisi in den letzten Monaten erlebt hat, wohl kaum sein. In seinem Heimatland Ägypten stehen die Zeichen auf Wandel. Im Januar begannen die Proteste der Bevölkerung, im Februar stürzte Machthaber Husni Mubarak, nun gab es neue Auseinandersetzungen mit dem Militär. Wie sich seine Heimat nach der Revolution politisch entwickeln wird, ist ungewiss. Im Juli dieses Jahres ließ der junge Mann das brodelnde Kairo hinter sich – und bezog als Stipendiat das Einsteinhaus in Caputh. „Es ist ein sehr ruhiger und stiller Ort, ein sehr guter Platz zum Arbeiten", sagt der 28-Jährige, der das vom Einstein Forum Potsdam und der Daimler und Benz Stiftung gemeinsam vergebene Albert-Einstein-Stipendium in diesem Jahr erhalten hat.
„Das Einzige, was mich ablenkt, ist das Internet. Ich bin süchtig nach Wikipedia. Schon als Jugendlicher habe ich oft bis drei Uhr morgens in der Bibliothek meiner Eltern gestöbert“, sagt Bargisi lachend. „Ich möchte alles wissen und komme dann vom Hundertsten ins Tausendste.“
Das Stipendium ermöglicht dem Stipendiaten einen sechsmonatigen Aufenthalt im einstigen Sommerdomizil des großen Wissenschaftlers. Seit 2007 werden mit dem Einstein-Stipendium junge Forscher gefördert, die damit die Möglichkeit erhalten, ein Forschungsprojekt zu realisieren, das sich außerhalb ihres bisherigen Arbeitsbereichs befindet. Kreatives, interdisziplinäres Denken soll dabei – ganz nach dem Vorbild Einsteins – im Vordergrund stehen. Amr Bargisi widmet sich während seines Aufenthalts in Caputh der Frage, wie Religion das Verhalten und die Handlungsweisen von Menschen beeinflusst. Nächstenliebe, soziale Verantwortung, Demut und Achtung der Schöpfung auf der einen Seite Hass, Krieg, Gewalt und Bestrafung auf der anderen – religiös motivierte Verhaltensweisen können gut oder schlecht sein. Warum ist das so, und gibt es Unterschiede zwischen christlich und muslimisch geprägten Kulturen? Welche Rolle spielt dabei das Verständnis von Religion? Bargisi, der Philosophie an der Ain-Shams-Universität in Kairo und an der Universität von Chicago studiert hat, möchte Antworten auf diese Fragen finden. Am Dienstagabend hielt er dazu auch einen Vortrag am Einstein Forum.
Im Jahr 2006 besuchte der Student Bargisi New York. „Das erste, was ich sah, war Ground Zero“, erzählt er. Dieser Anblick habe ihn sehr erschüttert und geprägt. „Wie viele Menschen kenne ich persönlich, die auch an Stelle der Attentäter gewesen sein könnten?“, diese Frage habe er sich gestellt. Lange Zeit habe er geglaubt, dass Religion mit den Problemen seines Landes nichts zu tun habe, erklärt Bargisi, der sich bereits seit zehn Jahren politisch in oppositionellen Gruppen engagiert. Diese Einstellung habe sich in den letzten Jahren jedoch grundlegend geändert. Der Islam sei in der arabischen Welt in hohem Maße gesetzlich und sozial verankert, während sich in der westlichen Welt Glaube eher auf einer individuellen Ebene zeige. Bei den derzeitigen Wahlen in Ägypten könnten die Islamisten, die sich in der Muslimbruderschaft und der salafistischen Bewegung organisieren, 60 bis 70 Prozent der Stimmen erreichen, dessen ist sich Bargisi sicher. „Entweder wird es eine neue Diktatur geben, die eine Machtergreifung der Islamisten verhindert, oder einen totalitären Staat. Niemand weiß, was dann passieren wird.“
Trotz aller negativen Aussichten – Amr Bargisi möchte nach Ägypten zurückkehren. „Viele Ägypter mit Verbindungen in den Westen haben das Land bereits verlassen oder planen ihre Ausreise“, sagt Bargisi. „Ich denke jedoch, es liegt in unserer Verantwortung, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen. Die gegenwärtige Situation ist eine historische Chance, die Islamisten ethisch, moralisch und politisch herauszufordern.“ Bargisi möchte die Zukunft seines Landes mitgestalten. Seit 2009 ist er Programmleiter der Ägyptischen Union der Liberalen Jugend, die sich für soziale und ökonomische Reformen in Ägypten einsetzt. „Wir brauchen in Ägypten mehr Kultur, Pressefreiheit, gut übersetzte Bücher und Offenheit. Ich denke, in den letzten fünf Jahren waren wir bereits auf einem sehr guten Weg“, so Bargisi.
Im Januar endet Bargisis Zeit im Einsteinhaus. Er wird zurückkehren in ein Land, das sich im Umbruch befindet, zurückkehren auch zu seiner Familie und zu seiner Frau, die er fünf Tage vor seiner Abreise nach Deutschland geheiratet hat. Wie seine Zukunft aussieht, weiß er nicht. „Vielleicht werde ich in fünf Jahren im Exil oder in politischer Gefangenschaft sein“, sagt er. Doch vielleicht wird er auch das sein, was er sich am meisten wünscht: Der Leiter eines großen Think Tanks, einer Denkfabrik, die Antworten auf die wichtigen Fragen unserer Zeit findet.
Heike Kampe
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