Homepage: Zwischen Verstand und Verklärung
Der Harvard-Philosoph Stanley Cavell besuchte Potsdamer Doktoranden
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Es lag etwas in der Luft. Wer vor einigen Tagen am Neuen Palais war, musste es bemerken. Eine Traube von Menschen stand vor dem Institut für Philosophie der Uni Potsdam in der Abendsonne. Suchende Blicke. Ein Taxi fährt vor. „Er ist da“, sagt jemand auf Englisch. Ein älterer Herr im dunkelblauen Anzug winkt vom Beifahrersitz. Eine Geste der Freude und des Erkennens. Der US-amerikanische Philosoph Stanley Cavell hat zahlreiche persönliche Bindungen in Potsdam. Während seiner langen Karriere hat er viele Schüler inspiriert, viele Bewunderer gewonnen. Sein Thema sind die großen Philosophen, die das 20. Jahrhundert geprägt haben: Nietzsche, Wittgenstein, Heidegger. Sein Name gehört in ein philosophisches Dreigestirn, das über das 20. Jahrhundert nachgedacht hat: Jürgen Habermas, Jacques Derrida, Stanley Cavell.
Er steigt aus und ist sofort umringt. Fotos werden gemacht, Händeschütteln und Umarmungen. Sogar kleine Kinder werden stolz vorgezeigt. Da passt es, dass Stanley Cavell gekommen ist, um über das Verhältnis von Philosophie und Leben zu sprechen. Das Graduiertenkolleg „Lebensformen und Lebenswissen“, das am Potsdamer Institut für Philosophie und an der Uni Frankfurt (Oder) angesiedelt ist, hat ihn eingeladen. Auf den Vortrag folgte eine Tagung zum Werk des Philosophen.
Im Saal dann eine Überraschung. Der 80-Jährige, der von Harvard aus die zeitgenössische Philosophie geprägt hat, hält keinen akademischen Vortrag. Er liest aus seiner Autobiographie. Gerade habe er das 800 Seiten umfassende Werk fertig gestellt. Und so tut Stanley Cavell das, was ihn berühmt und umstritten gemacht hat: Er denkt über sich selbst nach. Über seine Familie von jüdischen Einwanderern, die es schwer hatte in Atlanta/ USA. Über die Kindheit in einfachen Verhältnissen, geprägt von der Weltwirtschaftskrise 1929. Als junger Mann will er Musiker werden, wie seine Mutter. In den Zweiten Weltkrieg wird er nicht eingezogen, kann studieren, aber seine Musiker-Träume zerschlagen sich. Eine Krise, wie er heute sagt. Die Philosophie gibt erste Antworten. Als ihm 1955 der Sprachphilosoph John Austin in Harvard begegnet, hat Cavell ein Erweckungserlebnis. Die Philosophie lässt ihn nicht mehr los. Für sein eigenwilliges Verständnis von Philosophie wird er berühmt, aber auch berüchtigt.
„Wenn ich so weitererzähle, komme ich schnell bei meinem Tod an“, scherzt Cavell. Also bricht er im zweiten Teil seines Vortrags die Chronologie auf. Es folgen Eindrücke, Bruchstücke und offene Fragen. Seine Rede wird zögerlich. Der kräftige Mann horcht in sich hinein. Bis heute frage er sich, was Philosophie eigentlich ist. Ob er berechtigt ist, Thesen und Behauptungen öffentlich vorzubringen. „Ich habe Angst davor, dass mir jemand glaubt.“ Und: „Ist es denn so schlimm, wenn man nicht verstanden wird?“ Diese Zweifel machen den Kern von Cavells Philosophie aus. Er möchte diese Fragen zulassen. Sie sind die Quelle der Ruhelosigkeit, die für ihn den Menschen ausmacht.
Wo Cavell Ruhe sucht, findet er die Kunst. Poetische Passagen brechen aus ihm heraus, gehaucht in der tiefen Stimme: „Spannen wir unseren Wagen an die Sterne“, ruft er mit seinem Lieblingsautor, dem Romantiker Ralph Waldo Emerson. Ein Blick ins Publikum. Dann: „Wir wollten die Sterne, aber wir flogen nur zum Mond.“ So klingen die 70er Jahre in Cavells Autobiographie. Und so drückt er seine Enttäuschung mit der modernen Verstandeswelt aus. Cavell, das wird deutlich, schwankt immer zwischen Verstand und Verklärung, zwischen Verständigung und geheimnisvoller Dunkelheit.
„Cavell ist der einzige lebende Philosoph, der so stark an seinem eigenen Philosophieren zweifelt“, sagt Dr. Andrea Kern am Rande der folgenden Tagung. Daher käme seine besondere Aura, meint die Potsdamer Dozentin. Doch Cavells eigentümliche Selbstdarstellung hat ihm auch viel Kritik beschert. Eindeutige Thesen und Klarheit gelten in der Philosophie viel. Cavell gilt als Zauderer und verhinderter Poet, als prominenter Außenseiter. Und so will auch bei Stanley Cavell die Nervosität am Abend des Vortrags nicht recht abklingen. Als er ein Buch signiert, zittert seine Hand. „Der Vortrag war ein Experiment“, sagt er später den PNN. „Natürlich war ich nervös.“
Auch Constanze Demuth ist eine der 20 Doktoranden, die ihre Promotion im Rahmen des Graduiertenkollegs verfassen. Die Doktoranden treffen sich regelmäßig zum Ideenaustausch. Gefördert von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) forschen sie zum geisteswissenschaftlichen Lebensbegriff. Wobei Constanze Demuth bei ihrem Tagungsbeitrag eine besondere Herausforderung bewältigen muss: Ihr Promotionsthema sitzt in der ersten Reihe. Die Doktorandin spricht über Stanley Cavells Arbeiten zum Film. In mehreren Büchern hat er sich mit klassischen Filmgenres beschäftigt. Besonders die Rolle der Frau hat ihn dabei interessiert.
Das sei sehr ungewöhnlich für einen Philosophen, sagt Constanze Demuth nach ihrem Vortrag. Viele Philosophen seien der Meinung gewesen, das Thema betreffe höchstens Kulturwissenschaftler. Constanze Demuth ist von Cavells Vielseitigkeit beeindruckt. Und wie alle Referenten der Tagung hat sie in dem Philosophen einen aufmerksamen Zuhörer. „Ich bin hier, um zu lernen“, sagt der emeritierte Professor. Er stellt vorsichtige Fragen zu seinem eigenen Werk. Niemals ist er aufdringlich oder belehrend. So bleibt Stanley Cavell in mehrerlei Hinsicht am Rande des Geschehens. Und steht doch immer im Mittelpunkt.
Mark Minnes
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