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Homepage: Zwischen zwei Welten

Der gebürtige Chinese Wenchao Li ist der neue Leiter der Leibniz-Edition. Über den Gelehrten spricht er wie über einen Freund

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Das Erste, das auffällt, ist die Stille. Wie Watte liegt sie über dem Haus auf dem Hinterhof am Neuen Markt. Die Stadt mit ihren Geräuschen scheint hier im Büro von Wenchao Li fern. Der Philosophie-Professor sitzt an seinem Schreibtisch, auf dem neben einem Stapel kopierter lateinischer Texte ein chinesischer Fächer liegt. Das braune Holzregal an der Wand reicht bis zur Decke. Vergilbte Pappkästen reihen sich darin aneinander. In ihnen liegt die Arbeit von mehr als 100 Jahren Leibniz-Forschung – die Dokumente von Wenchao Lis Vorgängern, den Leitern der Potsdamer Leibniz-Edition: „Darauf kann Deutschland stolz sein“, sagt Li.

Die Stille hat nichts Andächtiges. Sie erscheint dem Besucher eher wie eine freundliche, arbeitsame Ruhe, in der Hektik keinen Platz hat. Li passt gut dorthin. Vielleicht, weil er sich so bedächtig bewegt, als wolle er in dem kleinen Raum nicht aus Versehen gegen die wertvollen Pappkartons stoßen. Seit einem Monat ist der gebürtige Chinese Chef der Editions-Stelle. Aber der international renommierte Leibnizforscher kooperiert schon seit 2003 mit seinen Kollegen am Neuen Markt. Dort ist nun sein Lebensmittelpunkt, die Unterlagen in den Schachteln sind seine Schätze. Wenchao Li hat sein Leben dem deutschen Universal-Gelehrten Gottfried Wilhelm Leibniz gewidmet. So sehr, dass er manchmal das Gefühl hat, er lebe selbst im 17. Jahrhundert wie sein Forschungsobjekt.

Dabei entspricht Li überhaupt nicht dem Klischee des weltfremden Wissenschaftlers, der eigenbrötlerisch vor sich hinforscht. Der 50-Jährige steht mitten im Leben, ist mit einer Krankenschwester verheiratet, die gemeinsame Tochter studiert in Berlin. Und er ist derjenige, der zu Hause kocht – obwohl „chinesische Männer eigentlich nicht in die Küche gehen“. Doch als der Student 1982 als Stipendiat nach Deutschland kam, haben ihm die Gerichte seiner neuen Heimat „nur beschränkt“ geschmeckt. Also hat er sich etwas im Supermarkt gekauft und selbst gegart.

Als seine Frau ihm dann aus China nach Heidelberg folgte, sagte sie ihm: „Du kannst das schon ganz gut, da kannst Du auch gleich weiter machen.“ Seitdem kocht Li, vor allem chinesisch. Mittlerweile isst er aber auch deutsch – am liebste Schweinshaxe mit Sauerkraut.

Nicht nur beim Essen wandele er zwischen zwei Welten: „Ich bin der ewige Ausländer – hier der Chinese, in China der Deutsche.“ Seit Ende der 90er Jahre hat er auch einen deutschen Pass. Er fühle sich eben mit der deutschen Kultur sehr verbunden, erklärt er. Vor allem aber fühlt er sich Leibniz verbunden. Wenn er über ihn spricht, klingt er, als rede er von einem Freund: „Ja, der hatte schon Ideen“, sagt er und erzählt von Leibniz“ Traum, über das russische Festland nach China zu reisen – wie die Transsibirische Eisenbahn. Doch die gab es zu Leibniz“ Zeiten noch nicht. Und die damals übliche Route per Schiff behagte dem Gelehrten nicht. Er hat China nie besucht, aber trotzdem zahlreiche Schriften über das riesige Reich und seine alte Kultur veröffentlicht.

Li, der Weltenwandler, der in einem Dorf am Gelben Fluss geboren wurde, hat schon in China Deutsch gelernt – während seines Germanistik- und Philosophie-Studiums in Xi“an. Er sprach damals wie Goethe schrieb, denn zeitgenössische Literatur hatte die Universitätsbibliothek nicht im Angebot. Seine berufliche Karriere hat er dann in Deutschland gemacht. Hier wurde er Doktor und Professor, lehrte in Süddeutschland und zuletzt vor allem in Berlin an der Technischen Universität und an der Freien Universität. Der Kontakt zu China ist aber nie abgerissen. Die Universitäten der Volksrepublik laden ihn ständig ein. Er ist Ehrendirektor der Leibniz-Forschungsstelle der Universität Wuhan und Mitglied des Wissenschaftlichen Beirates der chinesischen Leibniz-Kommission.

In China hat Wenchao Li auch zum ersten Mal etwas über Leibniz gehört – im Mathematikunterricht. Jedem chinesischen Schulkind ist Leibniz“ Rechenmaschine ein Begriff. Ob der deutsche Philosoph bei den Chinesen gar bekannter ist als in Deutschland? Nein, sagt Wenchao Li und zeigt auf ein altes Bahlsen-Werbeplakat an seiner Bürotür: „Der Leibnizkeks!“, sagt er und lacht.

Li ergreift fast jede Gelegenheit für einen Witz. Auf die Frage, wieso gerade er aus rund 20 Mitbewerbern für die Stelle in Potsdam ausgesucht wurde, sagt er trocken: „Weil ich Chinese bin – Ausländer werden bevorzugt.“ Der Gelehrte, der selbst schon 65 Bücher und Texte zu Leibniz veröffentlicht hat, hat einen so großen Namen in der Forschung, dass er Witze machen darf. Zumal sein guter Draht zu China in den nächsten Jahren bei der Leibniz-Edition tatsächlich eine große Rolle spielen wird. Mit vier chinesischen Universitäten arbeiten die Potsdamer an gemeinsamen Projekten. So sollen demnächst zwölf Bände des Leibniz-Werkes auf Chinesisch erscheinen.

Li will aber auch das Werk seiner Vorgänger weiterführen. 48 Bände mit Leibniz“ politischen Schriften gibt es bereits. Mehr als 100 sollen es werden. Aber keine Hektik. Li will dafür sorgen, dass seine fünf Mitarbeiter und ihre ehrenamtlichen Helfer ganz in Ruhe arbeiten können. Ruhe sei nämlich wichtig.

Juliane Wedemeyer

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