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Das Jahrhundert vermessen: ZZF-Chef Sabrow über die Arbeit der Historiker

Mit wachsendem Abstand verändert sich der Blick auf das vergangene 20. Jahrhundert.

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Mit wachsendem Abstand verändert sich der Blick auf das vergangene 20. Jahrhundert. Es war geprägt vom blutigen Wettstreit um die Ordnung der Moderne und endete als Zeitalter der vorläufigen Gewalteinhegung. In seinem Vortrag „Das Jahrhundert vermessen“, der den Auftakt zur gleichnamigen Ringvorlesung des Lehrstuhls für Neueste und Zeitgeschichte der Berliner Humboldt-Universität und der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur bildete, thematisierte der Zeithistoriker Martin Sabrow, Direktor des Potsdamer Zentrums für Zeithistorische Forschung (ZZF), jüngst den Vorgang des Vermessens sowie die Maßeinheiten in Gestalt von Epochen und Zäsuren, mit denen sich das 20. Jahrhundert erschließen lässt.

Um das Dilemma historischer Zeitgrenzen und der aus ihnen abgeleiteten Phaseneinteilung zu verdeutlichen, zitierte Sabrow die Worte des britischen Historikers Tony Judt zum Herbst 1989: „Nun erschienen die Jahre zwischen 1945 und 1989 nicht als Schwelle zu einer neuen Epoche, sondern als Zwischenzeit, als Anlaufphase eines noch unerledigten Konflikts.“ Immer sind Epochenbegriffe und Zäsuren perspektivenabhängig. Sie stecken nicht im Geschehen selbst, sondern in der zeitgenössischen oder nachträglichen Deutung. Zudem kann die Geltungskraft von Zäsuren rückblickend einerseits fallen, sich andererseits auch erst im Nachhinein herausbilden, weshalb Sabrow empfahl, zwischen Erfahrungszäsur und Deutungszäsur zu unterscheiden. Allerdings können epochale Zäsuren auch eine zeitgenössische Erfahrungsmacht ausüben, was sich am Beispiel des Mauerfalls 1989 zeigt.

Mit welchen Messmethoden und Zäsurbildungen sich das 20. Jahrhundert erfassen lässt, erläuterte Sabrow anschließend, wobei er die Beispiele nebeneinanderstellte, ohne das eine gegen das andere zu werten. So etwa ein Messmodell, das nicht die Mechanik der Chronologie oder die Zäsur der Zahlen und Daten, sondern die Zeitkonzepte des 20. Jahrhunderts selbst zur Messgrundlage für ein Jahrhundert des Zeitwandels nimmt. Ausgehend vom Jahrhundert umspannenden Phänomen der steten Zeitverknappung und Beschleunigung in technischen, lebenspraktischen oder kulturellen Bereichen wird hier entlang verschiedener Termini wie „Rekord“ oder „Tempo“ versucht, ein Zeitalter einer ständigen Beschleunigung nachzuzeichnen.

Ein hingegen ereignisgeschichtliches Konzept des „kurzen Jahrhunderts“ von 1917 bis 1989 lässt sich anhand der Konkurrenz der liberaldemokratischen, faschistischen und kommunistischen Gesellschaftsentwürfe ableiten. Daneben beschrieb Sabrow auch einen Ansatz, der die systemübergreifende Gestaltungseuphorie und den Machbarkeitsglauben auf unterschiedlichsten Feldern aufgreift, um das 20. Jahrhundert als Jahrhundert der Ordnung zu fassen. Ein weiteres Messmodell schließlich ergibt sich mit den durch die Zäsur 1914 verschobenen Perspektiven: weg vom fortschrittsorientierten hin zu einem katastrophengeschichtlichen Geschichtsbild des Jahrhunderts, das sich als Jahrhundert einer erst entfesselten und dann wieder eingehegten Gewalt lesen lässt. Daniel Flügel

Daniel Flügel

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