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Kultur: 13 Wochen Kriegsende in Potsdam Lesung von Hermann Kasacks Erinnerungen

Um es vorwegzunehmen: Ja, es war ein ergreifender Blick auf unsere Stadt vor fast genau 70 Jahren, den die von Florian Schmidtke im Glasfoyer des Neuen Theaters gelesenen „Tage- und Nachtblätter“ Hermann Kasacks boten. Der Schriftsteller und Lektor hatte darin seine Erlebnisse während der ersten 46 Wochen, die am Ende des Zweiten Weltkriegs dem Einzug der Roten Armee in Potsdam folgten, festgehalten.

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Um es vorwegzunehmen: Ja, es war ein ergreifender Blick auf unsere Stadt vor fast genau 70 Jahren, den die von Florian Schmidtke im Glasfoyer des Neuen Theaters gelesenen „Tage- und Nachtblätter“ Hermann Kasacks boten. Der Schriftsteller und Lektor hatte darin seine Erlebnisse während der ersten 46 Wochen, die am Ende des Zweiten Weltkriegs dem Einzug der Roten Armee in Potsdam folgten, festgehalten. Nur hätte man diesen Texten, deren ohnehin sehr emotionale Wirkkraft Christian Deichstetter am Klavier mit Stücken von Robert Schumann, Aram Chatschaturjan und Sergei Sergejewitsch Prokofjew unterstrich, nicht nur viel mehr, sondern auch viele jüngere Zuhörer gewünscht als die gut zwei Dutzend Gekommenen. Denn nicht nur die bis jetzt sich fortsetzenden Ereignisse in der Ukraine zeigen, dass sieben Jahrzehnte nach Kriegsende auch in Europa die Gefahr eines Spiels mit dem Feuer wieder nahe herangerückt ist.

Hermann Kasack kannte sich aus in Potsdam. 1896 hier geboren und aufgewachsen, besuchte er in seiner Jugend das damalige Viktoria- und heutige Helmholtz-Gymnasium. Das Kriegsende erlebte der Schriftsteller, der später als Lektor im Gustav-Kiepenheuer-Verlag gearbeitet hatte, ganz in der Nähe: In der heutigen Hegelallee 12.

In der Lesung zu erfahren, dass ihm dabei der Verleger Peter Suhrkamp während dessen Verhaftung und der folgenden KZ-Haft Suhrkamps Hermann Kasack die Verlagsleitung übernommen hatte, Verhaltensmaßregeln für den Fall von Häuserkämpfen gab, ergab einen Moment verwirrender Absurdität. Vielleicht ist es dem zeitlichen Abstand der Jahrzehnte geschuldet, dass kluge, geistig arbeitende Menschen im Kopf nur schwer mit Kriegshandwerk zusammengebracht werden. Damals schrieb Hermann Kasack in seine Tag- und Nachtblätter, die er am 9. Mai 1945 begann: „Die Zivilisation ist nur eine dünne Hautschicht, die das Wesen des Menschen umhüllt.“ Er hatte dabei seine plündernden Landsleute im Sinn, die aus Läden und Warenhäusern entwendeten, wessen sie habhaft werden konnten.

Kasacks Beschreibungen sind exakt, er verdichtet sie mit sprachlichen Bildern, die unter die Haut gehen. So spricht er nach dem großen Bombenangriff auf Potsdam, bei dem ein Munitionszug am Bahnhof in die Luft flog, und der die Altstadt in ein Trümmerfeld verwandelte, von einem „bleibenden Bild der Zerstörtheit, der Leblosigkeit“, ja, von der „gewesenen Stadt“.

Natürlich standen die eindrucksvollsten und zugleich schwer auszuhaltenden Szenen, in deren Ambivalenz der ganzen Wahnsinn des Krieges sich verdeutlicht, am Ende der Lesung. Es ist jene Situation, in denen der Schriftsteller mit seiner Frau Maria, der engen Mitarbeiterin Anne Möhring, und Nachbarn aus dem Haus geholt und, an ausgehobenen Gräbern und aufgepflanztem Maschinengewehr vorbei, über die Straße geführt wird. Niemand weiß, ob sie nicht – „aus dem Zufall einer Verwechslung“ – erschossen werden. Und es ist jene Szene, in der Anne sich gegen ihren Willen einem betrunkenen Offizier hingeben muss. Nach diesem Schicksalstag bedeutete „jeder Tag Ungewissheit und Wagnis, die deutlicher und existenzieller spürbar geworden ist“.

Susanne Klappenbach

Susanne Klappenbach

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