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Kultur: 60 Jahre mit Volldampf voraus Hochschule für Film und Fernsehen hat Geburtstag

Ein Bahnsteig am Berliner Bahnhof Ostkreuz, die große Uhr steht auf halb sieben. Ein anderer in Potsdam-West, hier zeigt die Uhr auf zwölf.

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Ein Bahnsteig am Berliner Bahnhof Ostkreuz, die große Uhr steht auf halb sieben. Ein anderer in Potsdam-West, hier zeigt die Uhr auf zwölf. Zwischen den beiden Filmszenen liegt nicht nur eine Zeitspanne von 32 Jahren und fünfeinhalb Stunden, sondern auch ein großes Stück Potsdamer Filmgeschichte.

Es ist dann auch der Zug, den die Hochschule für Film und Fernsehen (HFF) als Transportmittel gewählt hat, um anlässlich ihres 60-jährigen Bestehens durch die eigene Vergangenheit zu reisen. Sechs Kurzfilme aus sechs Jahrzehnten von ehemaligen Potsdamer Studierenden wurden am Donnerstag bei der Eröffnungsveranstaltung des Festjahres im Kinosaal der Hochschule gezeigt. Technische Möglichkeiten, Blickwinkel und Ausstattung mögen sich in den Jahren verändert haben, die Faszination Zug ist geblieben – in allen sechs Filmen spielt er eine tragende Rolle.

Der Film am Bahnhof Ostkreuz von 1957 ist der erste in der Reihe. „Auf einem Bahnsteig“ heißt er und beobachtet aufmerksam und mit viel Witz das anwesende Berliner Milieu. Innerhalb von fünf Minuten Wartezeit wird gelacht, geschwärmt, geklaut und getrunken – wohlgemerkt am frühen Morgen. Hinter der unbeschwerten Atmosphäre stand eine echte Herausforderung: Für Dreharbeiten war nicht viel Zeit, denn alle Studierenden der Hochschule teilten sich zwei Kameras, zusätzlich musste auf Ton und Farbe verzichtet werden.

Im Dokumentarfilm „15 000 Volt“ von 1963 konnte der Ton dann gezielt eingesetzt werden. Der Kurzfilm begleitet zwei der ersten Frauen, die als Elektrolokführerin arbeiteten. Regisseur Karlheinz Mund bat den Liedermacher Wolf Biermann um ein Lied zum Film. Der schrieb das „Frühlingslied der Einsenbahnerin“. Das Lied schaffte es nicht in jede Vorführung, und wenn doch, musste die letzte Strophe weggelassen werden. Grund waren die Zeilen: „Polen, Ungarn, Sowjetland, bricht sie durch die Grenzen. Liegt wohl noch auf Schienen Rost, Schienen sollen glänzen.“

Auf dem Bahnsteig Potsdam-West spielt der Film „Zug in die Ferne“ von Andreas Dresen. Zwar sind Ton und Farbe 1989 längst gang und gäbe. Ganz verschwunden ist das Grau der frühen Schwarz-Weiß-Filme deshalb nicht. In Dresens Film merkt man nicht nur dem Reichsbahnangestellten die fortschreitende Resignation über die Zustände an, wenn er auch an den letzten Fahrkartenautomaten ein „Defekt“-Schild hängt oder beim Öffnen der Tür seines Bahnhauses die lose Klinke in der Hand hält. Dennoch ist es kein verbittertes Bild, das Dresen da zeichnet. Vielmehr bringt er augenzwinkernd eine Stimmung zum Ausdruck, die gleichzeitig voll von Tristesse und doch erwartungsvoller Sehnsucht ist. So erzählt ein einsamer Mann am Bahnsteig von seinen offensichtlich erträumten Reiseplänen nach Paris, tauscht sich mit den wartenden Reisenden über Baguette und Camembert aus. Als Dresens Film fertig produziert ist, ist die Mauer bereits gefallen und die Hochschule vom Land Brandenburg übernommen. Eine leise Ahnung darauf kann man im Film vermuten. Die Bahnhofsuhr, die die ganze Zeit auf zwölf Uhr zeigte, hat ihren großen Auftritt in der letzten Einstellung: Plötzlich schnellt der Zeiger um eine Minute nach vorn. Clara Neubert

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Clara Neubert

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