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Kultur: Abweichend Aufregung um Stintzing-

Rede / Von Sigrid Grabner

Stand:

Man muß sich schämen, Bürger dieser Stadt zu sein, und Potsdam stünde es gut an, Deutschland und den Rest der Welt um Entschuldigung zu bitten. Hier herrscht nicht nur Ausländerfeindlichkeit („no-go-area“), hier gibt es auch immer noch Menschen, die unsere freiheitliche Demokratie dazu mißbrauchen, sich eine eigene Meinung zu bilden und sie sogar hin und wieder öffentlich kundtun.

Am schlimmsten sind die sogenannten Zeitzeugen, alte Leute, die besser wissen wollen, wie es zu ihrer Zeit zugegangen ist, als die mit wissenschaftlichen Erkenntnissen ausgestatteten Nachfahren. Der hochbetagte evangelische Pfarrer Wilhelm Stintzing, geliebt und verehrt nur von Ewiggestrigen, verfiel dem Irrtum in einer Andacht zum Gedenken an die Zerstörung Potsdams am 14. April 1945 in der Versöhnungskapelle, nach zwei von ihm durchlebten Diktaturen nun endlich frei über sie sprechen zu können. Er mutete dabei sechzig Zuhörern statt eingängiger Worthülsen ein paar Fakten und Argumente zu, was „gemischte Gefühle“ bei ungenannt bleiben Wollenden hervorrief. Glücklicherweise wurden sie schnell Herr ihrer Gefühle und besannen sich auf ihre Aufgabe, immer und überall die bedrohte Demokratie zu verteidigen, nämlich mit der bewährten Waffe der Denunziation. So kommt nun auch die Öffentlichkeit in den Genuß ihrer „gemischten Gefühle“. Noch ist die Demonstration unter der Losung „Wehret den Anfängen!“ nicht angekündigt, aber es ist doch sehr zu hoffen, daß die Potsdamer aus Kindergärten, Schulen, Verwaltungen und Altersheimen strömen werden, um dem Treiben von Wilhelm Stintzing entschlossen Einhalt zu gebieten.

Aber damit kann die Sache nicht erledigt sein. Immer wieder wird es Unverbesserliche geben, die öffentlich von der politisch autorisierten Meinung abweichen, wenn sie auch dank dem lobenswerten Einsatz von Gesinnungsschnüfflern und Denunzianten zunehmend weniger in Erscheinung treten.

Um künftig solche Fälle zu vermeiden, schlage ich folgendes vor: Die Stadtregierung beruft eine Ständige Kommission ein, bestehend aus Vertretern aller Parteien, Kirchen, religiösen Gemeinschaften, Vertretern der Ausländer, der Schwulen und Lesben, der Universitäten und Fachschulen, von Fußball- und sonstigen Vereinen (Liste beliebig verlängerbar), die für öffentliche Anlässe - von Gedenktagen bis Beerdigungen – Reden ausarbeitet und sich einstimmig auf deren politisch korrekten Inhalt einigt. Der Kommission sollte ein Gremium gut dotierter Experten und Gutachter beigesellt werden, denn es handelt sich schließlich um eine hoch verantwortungsvolle Aufgabe. Den so erarbeiteten Text sollten Schauspieler überzeugend auf Tonkonserve sprechen und die Veranstalter unter Androhung eines Bußgeldes bei Nichteinhaltung verpflichtet werden, diese Reden zu den jeweiligen Anlässen zu Gehör zu bringen. Um Ermüdungserscheinungen des Publikums zu begegnen und auch dem sich wechselnden Zeitgeist Rechnung zu tragen, müßten die Reden in gewissen Abständen etwas verändert und angepaßt werden.

Dieses Verfahren hätte den Vorteil, daß in der Öffentlichkeit nichts Falsches mehr gesagt wird und die Gesinnungsrichter ihre scharfen Augen und Ohren nun auf das weite Feld der privaten Äußerungen in Wohnungen, Gärten und Parks richten können. Da gibt es noch viel zu tun. Doch der Einsatz lohnt sich. Zur Belohnung winkt eine porentief reine, politisch korrekte, tolerante, demokratische Stadt mit schönen neuen Menschen, ein Vorbild für den Rest der Welt.

Sigrid Grabner ist Schriftstellerin. Sie lebt in Potsdam.Seite 10

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