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Wenn nur CPE zählt. Die Pianistin Ana-Marija Markovina mit einer Büste von Carl Philipp Emanuel Bach.

©  Harald Hoffmann

ZUR PERSON: „Als ich die Noten sah, war es um mich geschehen“

Die Pianistin Ana-Marija Markovina über ihre erste Begegnung mit der Musik von Carl Philipp Emanuel Bach, ihre Gesamteinspielung seiner Klavierwerke Solo auf 26 CDs und Bachs musikalisches Verhältnis zum Preußenkönig Friedrich II.

Stand:

Wenn im 18. Jahrhundert vom „großen Bach“ gesprochen wurde, war nicht Johann Sebastian gemeint, sondern sein Sohn Carl Philipp Emanuel. Er war einer der Hauptvertreter des Empfindsamen Stils und stand 28 Jahre lang als Cembalist und Kammermusiker im Dienst Friedrichs II., ehe er zwei Jahrzehnte als städtischer Musikdirektor in Hamburg wirkte. Am 8. März jährte sich der Geburtstag von Carl Philipp Emanuel Bach zum 300. Mal. Im Jubiläumsjahr stellen die PNN regelmäßig Neuerscheinungen mit Werken des „großen Bachs“ vor.

Frau Markovina, wann begann bei Ihnen die Beschäftigung mit Carl Philipp Emanuel Bach?

Vor ziemlich genau zehn Jahren, als ich die Anfrage für die Wiederaufbaukonzerte der Dresdener Frauenkirche erhielt, das d-Moll-Konzert von Vater Johann Sebastian Bach und das d-Moll-Konzert des Sohnes Carl Philipp Emanuel Bach zu spielen. Das Konzert von Vater Bach kannte ich schon, das musste ich dann nur noch auffrischen. Aber mit der Musik von Carl Philipp Emanuel hatte ich mich noch gar nicht beschäftigt und musste zuerst noch die Noten bestellen. Aber als ich die dann hatte, war es um mich geschehen.

Sie meinen, ein Blick in die Noten hat genügt?

Ja, es mich sofort gepackt. Seitdem war nur noch Carl Philipp in meinem Fokus.

Und was hat Sie bei diesem ersten Blick in die Noten derartig gepackt?

Schon der optische Eindruck war ein ganz anderer als beim Vater. Es war vielschichtiger und sah schon durch die Vielzahl der kleinen Notenwerte, die Überpunktierungen und großen Notenwerte wahnsinnig interessant aus. Als ich mich dann ans Klavier gesetzt und gespielt habe, hat es mich dann endgültig gepackt. Denn diese Musik ist so unglaublich intensiv, erzählerisch. Ein Stil, den ich so bisher gar nicht kannte.

Bei Carl Philipp Emanuel Bach sind die Gefühle die Grundlage für eine wahre Musik, bei ihm geht es um Empfindsamkeit. War es diese Empfindsamkeit, die Sie von Anfang an so fasziniert hat?

Die konnte ich am Anfang so noch gar nicht formulieren. Musik ist ja immer emotional, aber bei Carl Philipp Emanuel war es Vorsatz. Er kannte und stand zu seiner Subjektivität. Wenn er etwas schrieb, dann schrieb er von sich, von seinen Gefühlen. So explizit kommt das dann erst in der Romantik vor. In dem Sinne kann man ihn als den ersten Romantiker bezeichnen.

Weil Carl Philipp Emanuel Bach ganz klar das Ich in den Mittelpunkt seiner Musik gestellt hat?

Ja, genau. Sein Vater hat eindeutig seine Musik und sein Schaffen in den Dienst Gottes gestellt. Und er hätte wohl nie gesagt, dass eine Fuge aus seinem Wohltemperierten Klavier eine schlaflose Nacht beschreibt. Johann Sebastian Bach hat in seiner Musik nicht seine Zustände beschrieben, also keine Wut, keine Verzweiflung oder Ratlosigkeit. Aber Carl Philipp tat das ziemlich hemmungslos.

Die Auseinandersetzung allein mit dem d-Moll-Konzert hat Ihnen aber nicht genügt.

Nein, ich habe damit begonnen, einzelne Stücke zu studieren, die Musik zu lernen und mich immer tiefer in sein Werk einzuarbeiten. Zumindest in den Teil, der mir zugänglich war, weil die Noten im Druck vorlagen.

Ist aus dieser intensiven Auseinandersetzung die Idee entstanden, sämtliche Werke für Klavier Solo von ihm einzuspielen?

Der Trend ist ja da, Gesamtaufnahmen eines Komponisten einzuspielen. Und natürlich hatte ich auch die Idee. Aber es war nicht klar, um wie viele Werke es sich handelt. Mit dem Label Hänssler Classic haben wir dann 2011 mit den Planungen des Projekts begonnen und sind von 12 CDs ausgegangen, die im Jubiläumsjahr 2014 erscheinen sollten.

Letztendlich sind aber aus den 12 dann 26 CDs geworden.

Ich habe für das Projekt sehr eng mit Paul Corneilson vom Packard Humanities Institute in Boston zusammengearbeitet, wo die Edition von Carl Philipp Emanuel Bachs Werken erstellt wird. Und der teilte mir im Juli 2012 während der ersten Aufnahmesession mit, dass sie dort alle Noten zusammenhätten. Die waren noch nicht für den Druck freigegeben, das waren nur die Entwürfe, aber ich konnte trotzdem damit arbeiten. Ich habe dann das Label Hänssler informiert und den Umfang auf 20 CDs geschätzt.

Die hatten keine Bedenken?

Nein, ganz im Gegenteil. Wichtig war nur, dass wir im Zeitplan bleiben, also die letzten Aufnahmen im Herbst 2013 abgeschlossen sind und die CDs im Frühjahr 2014 erscheinen können. Das hieß dann für mich: arbeiten, arbeiten, arbeiten. Im vergangenen Sommer hatte ich dann eine Aufnahmesession von zwölf Tagen. Danach war ich fix und fertig.

28 Jahre lang war Carl Philipp Emanuel Bach Cembalist am Hofe Friedrich II, also auch in Potsdam. Lässt sich aus seinen Kompositionen etwas über sein Verhältnis zu Friedrich II. herauslesen?

Sogar sehr viel, denn da steckt sehr viel Psychologie drin. Doch bevor ich auf die Musik zu sprechen komme, möchte ich auf das bekannte Gemälde „Flötenkonzert Friedrichs des Großen in Sanssouci“ von Adolph Menzel hinweisen. Hier muss man ganz genau den Gesichtsausdruck von Carl Philipp am Cembalo betrachten, wie er seinen Brotherrn und Regenten anschaut, nämlich ziemlich souverän.

Im Mittelpunkt des Bildes ist Friedrich II. zu sehen, im Goldenen Schnitt aber Carl Philipp Emanuel Bach.

Genau, und Johann Joachim Quantz, Flötenlehrer des Königs, der das Vierfache von Bach verdient hat, steht im Schatten am Rand. In seiner Potsdamer Zeit hat Carl Philipp ungefähr 50 Sonaten geschrieben, die er gar nicht zur Veröffentlichung vorgesehen hatte. Diese Sonaten sind nicht so eingängig, sondern eher experimentell wie Fantasien. Hier hat er sich ausgetobt, ohne Rücksicht auf Geschmack oder Spielbarkeit, wohlwissend, dass der König eher einen konservativen Musikgeschmack hatte und seinen Kompositionen auch etwas kritisch gegenüberstand.

Hat Sie Carl Philipp Emanuel Bach in dieser Zeit nicht bis in den Schlaf verfolgt?

Ja, natürlich. Ich war da in einem regelrechten Flow, einem Schwebezustand, in dem man ständig hochkonzentriert arbeitet und gleichzeitig fatalistisch entspannt ist.

Wenn Carl Philipp Emanuel Bach in seine Musik so stark das Persönliche hat einfließen lassen, haben Sie ihn dann durch Ihre intensive Beschäftigung auch als Menschen kennengelernt?

Genau so habe ich ihn als Menschen kennengelernt und kann nur über ihn schwärmen. Und auch wenn das Wort heute leider etwas abgegriffen ist– aber wir haben hier einen wahren Genius vor uns. Denn aus fast jeder Seite seiner Musik spricht Inspiration auf der Basis von unvorstellbar gutem Handwerk. Gleichzeitig konnte er alle Ebenen bedienen und hatte Mut zu Neuem. So schrieb er Sonaten für Laienmusiker wie die „Damensonaten“, die einfach zu spielen waren und sich so gut verkauften. Gleichzeitig komponierte er hochkomplexe Sonaten und Fugen, Fantasien und Variationen, die damals kaum jemand spielen konnte. Und das alles von gleicher Qualität.

Waren Sie nicht trotzdem froh, als Sie die letzte Aufnahme endlich hinter sich hatten?

Nein, im Gegenteil. Ich habe sogar geweint, weil ich so traurig war. Das fing schon an, als ich den letzten Notenband von CPE vor mir hatte. Denn mit ihm war das Leben ein anderes. Ständig konnte ich etwas Neues entdecken, musikalische Einfälle, die mich immer wieder verblüfften, auch wenn es Wiederholungen und etwas unaufgeregte Stellen gab, vor allem in seinen Konzerten. Aber die Sonaten sind ein Kosmos. Und das hat mich so gepackt, denn es war ja auch eine Reise in sein Innerstes, das hat mich förmlich süchtig gemacht. Er hat alle menschlichen Gefühlen Ausdruck verliehen, selbst solchen, die man gar nicht benennen kann.

Obwohl Carl Philipp Emanuel Bach zu Lebzeiten schon als Genie bezeichnet wurde, Haydn, Mozart und Beethoven ihn gar nicht genug loben konnten, ist er im heutigen Konzertleben nur eine Randerscheinung. Können Sie erklären, woran das liegt?

Da bin ich leider die Falsche. Denn ich verstehe das überhaupt nicht. Ich liebe ihn so leidenschaftlich, das ist einfach meine Musik, das Zentrum meiner Arbeit.

Wenn Sie heute Haydn oder Beethoven spielen, spielen und hören Sie deren Musik jetzt anders?

Ich spiele jetzt sogar Bartók anders. Denn Carl Philipp Emanuel Bach hat mich und mein Leben, mein Gehirn und meine Finger verändert. Der rhetorische Aspekt bei ihm ist so stark, dass er alles andere einfärbt. Wenn ich jetzt Brahms spiele, oder Schostakowitsch oder Mussorgsky, dann sind die sprechender geworden. Auch habe ich keine Angst mehr vor deutlichen Phrasen, weil Carl Philipp mich von der ewigen Frage, ob ich im Tempo bleiben soll oder nicht, befreit hat. Bei ihm muss man musikalisch sprechen, rhetorisch denken und Pausen machen. Wenn man das auf die Musik überträgt, kommt eine neue Klarheit und Freiheit hinzu, bei allem, was man spielt.

Carl Philipp Emanuel Bach hat vor allem für das Cembalo geschrieben, sein Lieblingsinstrument war das Clavichord. Sie haben sich für Ihre Einspielung für einen modernen Flügel von Bösendorfer entschieden. Mussten Sie Kompromisse eingehen?

Überhaupt nicht. Denn wie ich schon gesagt habe, er war ein Genie. Und so muss man, egal auf welchem Instrument man ihn spielt, keine Abstriche machen. Gleichzeitig war er immer auf der Suche nach neuen Ausdrucksmöglichkeiten, gab sich nicht zufrieden mit den Grenzen, die ihm Cembalo, Fortepiano oder Clavichord aufzeigten. Er hat groß gedacht, orchestral, und hat seine Klavierbauer immer dazu angehalten, ihm lautere Instrumente zu bauen. Aber es ist schon erstaunlich, dass ich immer wieder danach gefragt werde. Wenn Pianisten heute Johann Sebastian Bachs Goldberg-Variationen oder „Das wohltemperierte Klavier“, Sonaten von Scarlatti oder Mozart auf einem modernen Flügel spielen, wird das nicht hinterfragt. Das hat sich eingebürgert, ist Teil unseres Konzertlebens geworden. Aber nicht bei Carl Philipp. Einfach weil er zu selten gespielt wird.

Sein zweibändiger „Versuch über die wahre Art das Clavier zu spielen“ gilt als Standardwerk.

Alles, was da drinsteht, ist von tiefer Wahrheit. Er gibt natürlich Anweisungen, was Fingersätze, was Verzierungen betrifft. Aber er schreibt auch oft von einem Mittelweg, von Gefühlen und dass es immer auch Auslegungssache ist, wie man die Musik verstehen möchte. Das alles hat mich nur noch mehr inspiriert.

Frau Markovina, ist diese Gesamtaufnahme mit 26 CDs, 35 Stunden Musik und etwa 300 Kompositionen eine Art Lebenswerk von Ihnen?

Im Moment schon. Es war für mich eine so große Freude, dass ich das machen durfte und es geschafft habe. Als ich mit den ersten Aufnahmen begonnen habe, war meine Tochter gerade fünf Monate alt. Und sie ist während dieses Projekts mitgewachsen. Am letzten Aufnahmetag war sie anderthalb und ist von allein auf den Klavierhocker gekrabbelt. Daher war das sowieso eine besondere Zeit. Ich merke daran, dass es ein Lebenswerk ist, weil ich mich derzeit noch nicht auf etwas Neues einlassen kann. Ehrlich gesagt: Ich bin immer noch sehr traurig, dass es schon vorbei ist.

Das Gespräch führte Dirk Becker

Ana-Marija Markovina, geb. 1970 im kroatischen Osijek, ist klassische Pianistin.

Im Alter von fünf Jahren erhielt Ana-Marija Markovina den ersten Musikunterricht. Später studierte sie in Detmold und Weimar, wo unter anderen Vitaly Margulis, Anatol Ugorski und Paul Badura-Skoda zu ihren Lehrern gehörten.

Intensiv hat sie sich in den vergangenen Jahren mit dem Klavierwerk

von Carl Philipp Emanuel Bach (1714-1788) beschäftigt und mit ihrer Gesamtaufnahme auch eine Vielzahl bislang nicht veröffentlichter Werke eingespielt.

Ana-Marija Markovina lebt mit ihrem Mann und ihrer Tochter in Köln.

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