Kultur: Amok der tickenden Zeitbomben
Im T–Werk: Jugendtheater Havarie und Autor Jens Becker zu einem aktuellen Thema
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Nach einer Bluttat wie in Erfurt oder – ganz aktuell – in Emstetten steht immer dieses „Warum“ im Raum. Wer oder was hat Schuld, wenn Jugendliche zu gewalttätigen Tätern werden?
Das Jugendtheater Havarie hat schon seit Januar ein Stück im Programm, das dieser Frage in jugendgerechter Umsetzung nachgeht. Aus aktuellem Anlass der jüngsten Gewalttat veranstaltete man am Mittwoch einen Amok-Themenabend im T-Werk. Vor der Aufführung las der Filmemacher und Autor Jens Becker aus seinem Buch „Kurzschluss - Der Amoklauf von Erfurt und die Zeit danach“, in dem er Interviews mit Betroffenen vom Erfurter Gutenberg Gymnasium versammelt hat. Robert Steinhäuser hatte dort im April 2002 insgesamt 17 Leben ausgelöscht.
Wollten das Theaterspiel noch vielleicht zwanzig Leute sehen, davon die Hälfte immerhin Schüler, so blieben zur anschließenden Diskussion nur noch weniger als die Hälfte. Die Aufführungen am Vormittag stießen auf deutlich mehr Interesse, hieß es entschuldigend.
Gerade die Aktualität der Ereignisse hatte erwarten lassen, dass sich auch Vertreter des öffentlichen Lebens in die Debatte einbrächten. Denn es gibt durchaus Lösungen.
Es trifft nicht zu – so der zusammenfassende Eindruck des Abends –, dass dieses „Warum“ immer unbeantwortet bleiben muss. Das Theaterstück des Dänen Michael Ramløse zeigt den Jungen Martin, durch den seine Eltern hindurch gucken. Er kann mit den Händen wedeln, herumschreien, sie sehen ihn nicht mehr. Absurd, wie die Mutter zur Polizei geht, um Martin vermisst zu melden, diesen aber zugleich streng auffordert, sie zur Wache zu begleiten. Mit der Kalaschnikow stürmt er dann das Schulfest: „Könnt ihr mich jetzt sehen?“, lautet seine letzte, verzweifelte Frage.
„Genau so ist es“, lobte der Jens Becker die präzise Beobachtungsgabe des Stücks. Becker sieht in der großen Gleichgültigkeit vieler Eltern einen entscheidenden Grund, warum Kinder zu Mördern werden. Becker ist eher unfreiwillig zum Experten für Amokläufe geworden, seitdem er von Arte und der ARD gebeten wurde, über das Gutenberg Gymnasium einen Film zu drehen. Er bot an, ein Jahr als Lehrer dort zu arbeiten und erlangte so das Vertrauen vieler der traumatisierten Schüler und Lehrer. Durch diese Einsichten wurde ihm klar, dass nur der zum Amoktäter wird, der keinen mehr als Ansprechpartner besitzt und dann „die virtuelle Spielwelt der Wirklichkeit vorzieht“. Der Täter von Emstetten hätte drei Jahre lang in Internet-Foren regelrecht darum gefleht, wahrgenommen zu werden. Natürlich wären die Eltern gefordert, deren regelmäßige pädagogische Schulung als Bedingung eines Schulbesuchs denkbar wäre, aber auch die Schule könnte aufmerksamer sein. Der Autor berichtete auch über die Entwicklung an der Erfurter Schule. Zwar sei sie durch 12 Millionen Euro Bundesmittel, die die Renovierung nach der Tat gekostet habe, „die teuerste Schule Europas“, auf der anderen Seite wären zur gleichen Zeit aber vom Land alle Stellen für Sozialpädagogen und Schulpsychologen gestrichen worden.
Becker widersprach mit guten Argumenten der verbreiteten Ratlosigkeit, mit der man allgemein diesen Verbrechen begegnet. Denn jeder zweite Bundesbürger, so besage eine aktuelle Statistik, besäße rein rechnerisch eine Waffe. Da sei es sehr einfach für Volljährige an Schusswaffen zu gelangen; überall könnten freie Schießplätze ohne Ausweispflicht überall besucht werden. Hier sei ein striktes Verbot genauso sinnvoll, wie bei Handel und Weitergabe Gewalt verherrlichender Computerspiele. „Counterstrike“, das beliebteste „Ego-Shooter“-Spiel, in dem gemordet und gesprengt wird, wäre ursprünglich für die US Marines entwickelt worden, um Soldaten systematisch das Mitgefühl abzutrainieren. Studien hätten diese Wirkung belegt. Bislang aber, so Becker, ließe sich mit diesen Spielen noch zu gutes Geld verdienen. Lösungen?
Becker schlug einen generellen Kaufboykott der besagten Firmen vor. Er wunderte sich zudem, dass trotz der Unterrichtsmisere bislang Streiks an Schulen ausgeblieben sind. Grundsätzlich sollte sich jeder mehr einmischen, denn es gäbe viel mehr „tickende Zeitbomben“, als man denke. Jens Beckers trüber Blick in die Zukunft, „vielleicht reden wir in drei Jahren schon über Amokläufe im Arbeitsamt“.
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