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Kultur: Amor jagt Psyche
Shakespeares Sonette mit Country und Flamenco: „Ton und Kirschen“ filtern die Substanz der Liebe
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Im Tanztheater fabrik werden nicht nur Gedichte zu Geschichten, sondern auch Lyrik zu Lyrics. Die Premiere von Shakespeares Sonetten des Wandertheaters „Ton und Kirschen“ am vergangenen Freitag in der Schiffbauergasse ist mehr Konzert als Schauspiel. Ein Hobo in abgegriffenem Tweed-Jackett und roter Fliege betritt, im wahrsten Sinne, die Bretter, die die Welt bedeuten, denn die Bühne besteht aus einem losen Arrangement von Holzlatten. „Enjoying Shakespeare everyone?“, ruft er und nickt seinem Kollegen an der Fidel zu – einem schlaksigen Kerl mit Schlapphut. „I’m singing a song now with lyrics by William Shakespeare. Sonnet 109.“ Country und Shakespeare soll nicht das einzige unangepasste Paar dieses Abends bleiben. Es folgen Flamenco, Swing, Blues – ja, sogar Schlager und Shakespeare. Musik als die elegantere Form der Rezitation bewegt die Gemüter und geht ans Gefühl, wo das gesprochene Wort erst einmal verstanden werden will.
Gewöhnen muss man sich dennoch an ein Theater ohne konsequenten Text als roten Faden. So kleben die Augen des Zuschauers zunächst an den Untertiteln, als ein Sonett in spanischer Sprache vorgetragen wird und innere Unruhe regt sich, als die Übersetzung allzu bald wieder von der Leinwand verschwindet. Die Inszenierung vereitelt den Zugang zur Sprache und öffnet sich dafür ihrer Rhythmik, weil das Gesagte nicht entscheidend ist. „What is your substance?“, ist dann auch gleich die erste Frage, die das Stück stellt. Es beantwortet sie mit 36 Sonetten, die wie in einem Episodenfilm die ganze Bandbreite menschlicher Empfindungen spürbar machen. Irrungen und Wirrungen der Liebe mit all ihren Nebenwirkungen. Es verzehren sich die Figuren vor Sehnsucht, sind hochmütig und eifersüchtig und haben mit Verlust und Zurückweisung zu kämpfen. Dennoch verliert sich das Stück keinesfalls in apodiktischem Ernst. Ganz im Gegenteil wandern da körperlose Stiefel über die Bühne, während ein wild gewordener Amor unter den dramatischen Klängen von „Tage des Zorns“ auf die Jagd nach Liebesopfern geht. Zwei Selbstverliebte tanzen den Tanz der Eitelkeiten und eine geschmeidige Tigerdame entpuppt sich als weniger bedrohlich als vermutet.
Einige Episoden verdichten den Text mit bildlichen Anleihen aus der Kunst. So etwa, als ein Darsteller – wie Humphrey Bogart in Hut und Trenchcoat – von seiner Begierde nach einer geheimnisvollen Rothaarigen übermannt wird: „Unbelehrbar bin ich, nicht bei Troste, irr, rasender Wahnsinn reißt mich mit sich fort. Mein Denken Tollheit und mein Reden wirr, Ich red nur krauses Zeug, kein wahres Wort.“ Die Unerreichbare sitzt nur starr und in ihrer Kühle erinnert die Szene an ein Gemälde von Jack Vettriano oder Eduard Hopper.
Ursprünglich boten Shakespeares Sonette sozialen Sprengstoff, weil die Liebesgedichte nicht nur einer Frau, sondern auch einem blonden Jüngling galten – im elisabethanischen England eine grobe Provokation. Heute ist das wenig skandalös, deshalb wird nicht explizit Mann gegen Frau ausgespielt. Beim Bühnenbild hält sich das Wandertheater aber an die elisabethanische Tradition, sagt Margarete Biereye, die das Ensemble vor 23 Jahren gemeinsam mit David Johnston gegründet hat. „Das Theater hat da einen freien Raum, in dem Veränderungen stattfinden können“, so Biereye. Und auch das Bühnenbild in der fabrik bleibt bescheiden, aber spannend und wandelbar. Von einem massiven Holzrahmen hängen Taue herab, die – mal Wald, mal Glocken – vielfältig eingesetzt werden. Über eine atmosphärische Geräuschkulisse findet sich der Zuschauer auf einer Lichtung an einem lauen Sommerabend, in den Tiefen des Ozeans oder an einen Strand wieder, den ein unbeeindruckter Hausmeister kurzerhand wieder von der Bühne fegt.
Sonst spielt das Wandertheater unter freiem Himmel. „Da bricht man mit Formalitäten“, sagt Johnston. „Alle sind sich sehr nah und auch Zaungäste können zuschauen.“ Geschlossene Räume böten hingegen die Möglichkeit des subtilen Spiels. „Theater sind intime Räume, in denen auch leise Töne gehört werden“, so Biereye. Gerade diese Intimität ist es, die bei der Premiere in der fabrik zuweilen magische Momente erzeugt. Als die Puppenspielerin Daisy Watkiss in fast völliger Dunkelheit ihre Marionetten zum Leben erweckt, herrscht eine unheimliche Stille – wie echte Menschen regen sich die weißgesichtigen Wesen unter ihrer Hand.
Am Ende kulminiert das Schauspiel in ein ungestümes Chaos der Irrationalitäten – denn was vermag die Liebe mehr, als der Vernunft den Garaus zu machen? Theresa Dagge
Das Wandertheater „Ton und Kirschen“ inszeniert Shakespeare-Sonette in der fabrik, Schiffbauergasse 10; Freitag, 20./21. November, um 20 Uhr; Sonntag, 22. November, 16 Uhr
Theresa Dagge
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