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Kultur: Anmut ohne Pathoskeule

Offene Bühne bei den Tanztagen: „12 Stücke für Gertrud“

Wer diese Gertrud ist, die in der fabrik Geburtstag feiern soll? Die gibt es nicht. Auch die zwölf Stücke, die für die Tanztage aus vierzig Bewerbern für das Tanzfestival ausgewählt wurden, kümmern sich thematisch nicht weiter um Getrud. Trotzdem ist ihnen eine angenehme Kürze – keines länger als zehn Minuten – und der weitgehende Verzicht auf Requisiten gemein. Spannung wie in einem kleinen Wettbewerb kommt auf. Was taucht als nächstes aus dem Schwarz der Bühne auf?

Den Anfang macht die Spanierin Mamen Agüera. Erst bewegen sich ihre Arme wie auskrakende Schlingpflanzen, dann der Rest. Der glühende Trieb des Flamenco wirft die Tänzerin auf die Knie. Vor ihr liegen rote Nelken. Es geht um ein gebrochenes Herz. Wildes Wedeln des Rocks sagt, die Krise ist überwunden. Noch pathetischer wurden Patrick Scully und Sabine Chwalisz in ihrem von Zärtlichkeit geprägten Schwanengesang „A Way Out“. Der Hüne wickelt sie etwas steifhüftig um den Hals, sie stützt ihn, als er zu kippen droht. Milde durchgelächelte Übungen in Kontakt-Improvisation.

Die zitternde Hand der Kanadierin Shannon Cooney, die im Stück „Short Wave“ einfach nur fort vom Körper will, gab dem ganzen Abend den tänzerischen Maßstab vor. Ja, man kann mit Bewegung wortlos eine Geschichte erzählen. Ja, es muss sogar nicht immer ohne Humor ablaufen. Ja doch, man versteht die Sprache des Tanzes. Entscheidend ist nur die klare Ausprache der Interpreten.

Das tat die Israelin Zufit Simon in ihrem schon Preis gekrönten Stück „Fleischlos“. Eleganz, Kraft, Sinnlichkeit werden mit dem Paradoxen gebrochen. So wie der artistisch hinter dem Kopf verschränkte Fuss, der die Tänzerin zu bedrohen scheint. Bei Marlène Bunge und Jan Burkhardt sind Cello und die Musik Bachs stärker als die getanzten Figuren, und bei Adam Reed und Sabine Zahn überwogen die Geräusche von alten Kinderspielen das Choreographische. Inhaltlich handelte es sich aber um bildintensive Ansätze an denen noch gearbeitet werden kann.

Die Stepptänzerin Cristina Delius gehörte wie die Trapezkünstlerin Petra Teckemeier eher in den Bereich Varieté. Ihr „Bewegungsmaterial“, ein Fachbergriff der Szene, raubte wegen hoher Geschwindigkeit bzw. Raumhöhe den Atem. Zum eigentlichen Tanz führte aber erst Susanne Martin zurück. Ihre Figur Rosi trägt unter einer schwarzen Perrücke eine Greisenmaske, die einfach nicht zu den kecken Bewegungen passen will. „Sie müssen es noch nicht verstehen“, steht im Programm. Eine sympathische Ehrlichkeit. Auch das Stückchen „Up and Ober“ entzieht sich einer Interpretation. Die abgehackten Verrenkungen, das Veharren in Uneleganz, das Ulrike Reinbott und Lena Meierkord vorführen, ist meisterhaft rhythmisiert. Hier werden Knochen und Fleisch zu einem Instrument, das nie gehörte Töne spielt. Anmut ohne Pathoskeule.

Neben der fabrik-Chefin traten auch die jungen Tänzer um Anja Kozik als Lokalmatadore auf. Die Gitarre von Chris Hinze spielte durch Computer verzerrte und verdoppelte Töne. Sechs Tänzer bewegten sich dazu in impulsiver Manier. Adrett zu sehen. Man sieht die ärgerlich-trotzige Schnute der Pubertät. Eine über den bewegungspädagogischen Nutzen hinaus gehenden Sinn in diesem wuchtigen Gewimmel drängte sich dem Betrachter aber nicht auf.

Matthias Hassenpflug

Matthias Hassenpflug

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