Kultur: Antipoden
Mit Brahms und Bruckner im Nikolaisaal
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Über erbittert geführte musikalische Richtungsstreitigkeiten weiß die Musikgeschichte eine Menge zu berichten. Zwischen den Gluckisten und Piccinisten im Aufklärungszeitalter beispielsweise. Oder den Anhängern von Johannes Brahms und Anton Bruckner im Wien des späten 19. Jahrhunderts. Auslöser der Fehde Letzterer: Wagners musikdramatische Ansichten. Während Brahms vielen als Bewahrer des Beethoven-Erbes gilt, wird Bruckner von ihnen wegen seiner kritiklosen Wagnerverehrung als „Wagnerianer“ geschmäht. Nun sind die musikalischen Antipoden, die sich persönlich aus dem Weg gehen und abschätzig über die tonsetzerischen Qualitäten des anderen reden, im Programm des 9. Sinfoniekonzerts im ausverkauften Nikolaisaal am Pfingstsamstag traut vereint.
Als Vermittler fungieren die Musiker des Brandenburgischen Staatsorchesters Frankfurt nebst Chefdirigent Howard Griffiths. Zu Beginn des Abends kommt das von Beethovenschem Geist erfüllte D-Dur-Violinkonzert op. 77 von Johannes Brahms zu Wort. Als solistische Sprachmittlerin ist die niederländische Geigerin Isabelle van Keulen gewonnen, die mit ihrer expressiven Lesart tief in die Gedanken- und Gefühlswelt des Komponisten einzudringen versucht. Was bei diesem quasi „Sinfonie mit obligater Violine“ zu nennendem Konzert wegen enormer technischer und gestalterischer Schwierigkeiten oftmals zu einer Gratwanderung führt. An Kraft und Anmut spart sie dabei nicht, auch wenn sie forschen Saitenspiels in das musikalische Geschehen eingreift. Tags zuvor klang es in der Frankfurter Konzerthalle ganz anders: ruppig, direkt und laut. Im Nikolaisaal erhält die Musik jedoch Zeit zum Atmen und Erblühen. Geschmeidiges Orchesterspiel, kontrastbetonte Leidenschaften, ausdrucksvolles Adagio-Singen und herber Brahmssound ergänzen einander. Einschmeichelnd ist van Keulens Ton nie, denn sie gestattet sich keine zerfließende Gefühligkeit. Um Brahmsens innere Nähe zu Beethovens Violinkonzert zu betonen, spielt sie eine von an- und abschwellenden Paukenwirbeln und einigen Streichern begleitete Solokadenz von Ferruccio Busoni, die sich nahtlos in den musikalischen Ablauf einbettet. Sehr originell. Die Geigerin wird anhaltend gefeiert.
Ganz in ihrer Urgestalt, also ohne später hinzugefügten Beckenschlag nebst Triangelgeklingel, erklingt die 7. Sinfonie E-Dur von Anton Bruckner, ein 65-minütiges Opus von breit strömender Schönheit. Dabei gehen mehrere Seitenthemen verschlungene Verbindungen ein, wird die staunenswerte Ausdrucksintensität der Musik durch ständige Variantenbildungen unentwegt gesteigert. Es ist, als würde man zu einer gipfelreichen Bergwanderung aufbrechen, Geröllhalden durchschreiten und so manches Tal voller naturidyllischer Schönheiten erkunden. Das Orchester ist vom glanzvollen schweren Blech bis zum Streicherstrahlen dynamisch breit aufgestellt, zu großer wagnerpathetischer Geste genauso fähig wie zu höhenatmosphärischen Dankesgefühlen nach der finalen Gipfelerstürmung. Stets brodeln die intensiv erforschten und inbrünstig ausgebreiteten Gefühle – eine anhaltend bejubelte Meisterleistung von Orchester und Dirigent. Peter Buske
Peter Buske
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