Kultur: Atemberaubende Reise zu sich selbst
Wiederentdeckung der Cavalli-Rarität „La Rosinda“ im Schlosstheater im Neuen Palais
Stand:
Gelangweilt steht man herum, mixt sich alkoholische Anmacher, lümmelt auf vorbühnenbreiter Sitzgruppe. Doch was mit sich anfangen, wie sich amüsieren? Hilfe in Gestalt eines Eventmanagers naht, der die feierlahme Gesellschaft zu Action animieren will. Als fellwestenbekleideter und bezopfter „Regisseur“ verteilt er schriftliche Anweisungen: Ihr habt doch alle Eure Macken. Seid verzweifelt, rasend vor Liebesschmerz, frustriert vor Kummer, intrigiert, fürchtet Euch vor der Einsamkeit, sucht nach glücklicher Zweisamkeit – all das mag darauf stehen, geronnen zu einer Geschichte um zutiefst menschliche Gefühle aus längst vergangenen Zeiten. „La Rosinda“ heiße das Drama per musica, das der Genueser Francesco Cavalli (1602-1676) auf einen Text von Giovanni Faustini komponiert und 1651 im Teatro S. Apollinare von Venedig zur Uraufführung gebracht hat. Wollt Ihr es nicht nachspielen, Euch in die Figuren hineinversetzen? Zögernd, dann neugierig folgen sie seinem Vorschlag. Noch können sie nicht ahnen, dass daraus eine Erfahrungsreise zu sich selbst wird.
Wieder eine jener modernistischen Regietheaterarbeiten, die die Vorlage gewaltsam in die Gegenwart katapultiert? Wer es erwartet, sieht sich erfreulicherweise getäuscht. Dem fantasiebegabten, mit witzigen Einfällen nicht sparenden Regisseur Alexander Schulin ist die Vorlage des Monteverdi-Schülers und späteren Kapellmeisters an San Marco heilig. Die einhellig bejubelte Musikfestspiele-Premiere im Schlosstheater im Neuen Palais belegt es auf höchst eindrucksvolle Weise. Keine Textstelle oder Note, der er je Gewalt angetan hätte. Als Laboratorium der Gefühle hat er hinter die Superliege eine bühnenausfüllende Whitebox in starker perspektivischer Verzeichnung bauen lassen (Bühnenbild/Kostüme: Bettina Meyer). Ihr klinisches Weiß schärft die Sinne der darin Agierenden genauso wie die des Publikums, das unwillkürlich in den Seelentest mit einbezogen wird.
Wer in die Box geht, wird vom Animateur mit Accessoires aus Riesentragetaschen ausgestattet, mit denen er sich seine moderne Gewandung ein wenig historisieren kann. Als erste wagt Emanuela Galli (Nerea) den grenzüberschreitenden Schritt ins Ungewisse. Mit wilder Haarmähnenperücke und fulminantem Sopran voller leidenschaftlichen Glut und bezirzender Raffinesse gleicht sie einer Furie und rachsüchtigen Intrigantin. Während sie agiert, über den Verlust des Geliebten Clitofonte klagt, in den sich wiederum die Titelheldin Rosinda verliebte, die daraufhin ihren Angebeteten Thisandro sitzen ließ, schauen die anderen mehr oder weniger interessiert zu, kommentieren als Chor den Fortgang des Geschehens.
Das zeigt sich zunehmend verworrener, weil auch noch Zaubertränke und magische Mittel zum Einsatz kommen. Das wirbelt die Seelen der Protagonisten extra durcheinander. Mitunter hat man Mühe, den Verwicklungen zu folgen. Im ersten Akt tritt jede Testperson nach getaner Singarbeit in den Kreis der Partyfeiernden zurück, im zweiten sind alle als „Versuchskaninchen“ in der Box gefordert. Man lässt sich aufeinander ein, sammelt erste Erfahrungen im Umgang miteinander. Am Ende ist nichts mehr so wie es anfangs war – auch wenn die „richtigen“ Paare wieder zueinander finden.
Dass man bei all den Wirrnissen dennoch nicht den Überblick verliert, ist der durchkomponierten, farbenfrohen und abwechslungsreichen Cavalli-Musik zu danken. Nahtlos gehen die kurzen Sinfoniae, Ritornelle, Accompagnati, Arien und ariosen Gesänge ineinander über. Sozusagen ein Gesamtkunstwerk präwagnerischer Zeit. Unter der straffen, sachkundigen und spannungsbefördernden Leitung von Mike Fentross kostet das zehnköpfige Ensemble „La Sfera Armoniosa“ alle Klangfacetten zwischen Pathos und Posse genüsslich und gestaltungsintensiv aus. Der eingeforderten Klangrede widmen sich die exzellenten Musiker in totaler Hingabe. Das sparsame Instrumentarium schafft dem Ganzen überdies eine schöne Intimität.
Die Solisten sind rollengerecht besetzt, singen fast ausnahmslos vorzüglich. Als Titelheldin weiß Francesca Lombardi Mazzulli mit ihrem ausdrucksstarken, von Leidenschaft und Lyrismen gleichermaßen durchglühten Sopran zu überzeugen. Seinen strahlkräftigen und leuchtenden Tenor beherrscht Makoto Sakurada (Clitofonte) mühelos. Bassbaritonale Direktheit sind das Markenzeichen von Nicola Ebau (Thisandro), bassbuffoneskes Agieren das von Fulvio Bettini (Rudione). Dagegen ist Countertenor Roberto Romagnino als Vafrillo leicht überfordert. Ein glaubhaftes Doppelspiel betreiben Silvia Vajente (Proserpina/Aurilla) und Mirco Palazzi (Plutone/Meandro), der sich gleich zu Beginn als Partymeister eingeführt hatte.
Peter Buske
- showPaywall:
- false
- isSubscriber:
- false
- isPaid: