Kultur: Auf dem Schlachtfeld der Wahrheit
HOT-Theaterjugendklub auf Spurensuche in Beslan
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HOT-Theaterjugendklub auf Spurensuche in Beslan Junge Leute fühlen sich viel unmittelbarer in „die Welt“ und ihre oftmals ungerechten und blutigen Wege involviert als die scheinbare Abgeklärtheit der Älteren. Sie wollen verstehen, verändern, suchen nach dem guten Kern in ihr, um doch noch zum Bessern zu wenden, was ihre Vätergeneration verkorkst hat. Acht Mitglieder des HOT-Jugendklubs zeigten jetzt an zwei einander folgenden Tagen, wie sehr sie das längst abgehakte Thema „Beslan“ – wann war das doch gleich? – bewegte, jene dramatische Schulbesetzung im kaukasischen Tschetschenien ausgerechnet am „Tag des Wissens“, zur Einschulung Hunderter ABC-Schützen im September 2004. Die Phänomenologie dieser aberwitzigen Geschehnisse hatte verwirrend viele Gesichter, Meldungen waren gefälscht, Bilder fingiert, kein gelernter Politologe war in der Lage, dieses Ereignis hinreichend zu dechiffrieren. Unter dem Titel „Tamerlans Traum“ versuchten die Schüler, dieser ganz allgemeinen Erklärungsnot beizukommen, denn für sie ist Beslan auch heute nicht fern. Sie schrieben Gedichte, Erzähl- und Sachtexte, und man spürte eigene Ängste darin, auch Unverständnis, wie zahm etwa Deutschland auf den „Völkermord der Russen“ in Tschetschenien reagiert hatte. Freilich hielt man sich an die Begrifflichkeit der Erwachsenen, benutzte auch deren Vokabular, wie Genozid, Opfer, Terroristen, nicht verwunderlich also, wenn Felix Freese, Kathrin Henschen, Tino Hillebrand, Jörg Massow, Robert Müller, Christina Petschke, Christin Schulz und Lisa Wambsganß letztlich da ankamen, wo ihre „Lehrer“ vielleicht schon längst stehen: Vor Ungewissheit und tötender Wut. Die Spielleitung für diese szenische Montage übernahm Gunter Bergmann, der ein Praktikum bei der Theaterpädagogik des HOT absolvierte. Er schickte seine Akteure und Sprecher („unsere bittere Spurensuche“) auf eine leere Off-Bühne, dieweil man hinter den blutrot beleuchteten Seitenvorhängen auch Teile des unverputzten Mauerwerks sah, genau wie in Beslan. Ein Spieler gab Bericht über die Schulbesetzung, ein zweiter repetierte die hohen Zinnen der Weltpolitik, während ein dritter die Optik der islamischen Seite vorstellte: Man verstehe sich als „Werkzeug Gottes“, nur Tod könne die anderen von ihrem „Unglauben“ befreien. Parallel dazu schilderte ein Mädchen ihren Tagesablauf in Potsdam, ein anderes sprach in luftiger Höhe Gedichte, worin sie das Gute und Schöne dieser Welt suchte, allerdings vergeblich. Tiefer Ernst lag über dieser guten Stunde, auch wenn sich der Bezug zum Eroberer Tamerlan („Timur“) kaum herstellte und manches seinen szenischen „Punkt“ einfach nicht fand. Dem Ältesten im T-Werk saß am Montag ein junges Pärchen im Nacken, welches durch abgeschmackte Kommentare deutlich machte, wie bivalent diese „Aufklärung" reklamierende Arbeit eigentlich ist. Es ließ nichts von diesem „Beslan-Projekt“ an sich heran, weder das Leid der Kinder (mit wenigen Mitteln von einem Jungen dargestellt) noch unmenschlichste Quälereien. Vielleicht gehören die beiden mehr zu dieser Welt – dem Schlachtfeld der Wahrheit – als die ganze Personage auf der Bühne, denn sie nehmen dieselbe einfach hin. Blumen für alle Opfer am Schluss, bevor das letzte Wort verhallte: „Äußerste Verbitterung“. Wichtigste Frucht dieser Vorstellung: Diese Schüler suchen noch, was Ältere längst weggetan haben, den „guten Kern“ dieser Welt als das Schöne. Georg Martinger
Georg Martinger
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