Kultur: Auf der Jagd nach Hamlet
Die Bühne weiß, die Figuren weiß, totenbleich wie Hüte und Mäntel sind auch die vermummenden Gesichtstücher der sieben Spieler. Country-Klänge auf E-Gitarren, dazu einen Berg alter Wäsche in Weiß im Zentrum der Bühne – Farbe der liliengleichen Unschuld und des Todes.
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Die Bühne weiß, die Figuren weiß, totenbleich wie Hüte und Mäntel sind auch die vermummenden Gesichtstücher der sieben Spieler. Country-Klänge auf E-Gitarren, dazu einen Berg alter Wäsche in Weiß im Zentrum der Bühne – Farbe der liliengleichen Unschuld und des Todes. Ein Kind nuckelt auf der Video-Wand am nährenden Busen. Nein, das ist nicht meine Mutter, sagt ein Mann ganz in Weiß, sie stillte mich nicht, sie brauchte ihre Brüste für ihren Mann, meinen Vater, die Amme gab mir die Milch. Ich bin Hamlet, der Säuger.
„Wanted Hamlet“ heißt das Stück der belgischen Theatergruppe Agora, das am Mittwoch bei Unidram im T-Werk zu erleben war. „Gesucht Hamlet“ im Wildwest-Milieu, das heute „Happyland“ heißt, wo man Freiheit und Glück mit dem Revolver erzwingt. Und dieses „Drama loosely based on W. Shakespeaere“ stellte die Fragen, ob man Shakespeare unbedingt folgen muss und wie viel werktreuen Hamlet braucht eine Gegenwarts-Bühne, wenn es um „Hamlet“ geht?
Die nur Rezeption sein wollende Inszenierung von Agora verweigert Shakespeare die Treue, macht sich ihr eigenes Bild. Beim etwas plakativem Finale wollen die Spieler in Hamlets Namen nicht mal mehr töten. Das ist Gegenwart, ist Politik, ist, was Theater kann und oft soll, Subversion, denn es geht nicht um Hamlet, es geht um uns und jetzt und heute, sagen die Belgier. Der Titel „Wanted Hamlet“ klingt, als ob irgendein Sheriff einen Kriminellen suchte. Ja, so Autor-Regisseur Marcel Cremer im anschließenden Publikumsgespräch, Hamlets Töten von gestern ist das Morden von heute. Kennedy ermordet! Hamlets berühmte Theatertruppe mit peitschenden Schüssen erlegt! Und als alle Versuche scheitern, seine Mutter Gertrude in einer Arena aus Lumpen wie ein Wildpferd zu zähmen, streckt so ein Schuss auch sie nieder! Ophelia in ihrem gebauschten Kleid gurgelt, während sie ein betörendes Lied singt, mit Wasser, sie ist ertrunken. Mord und Todschlag bestimmen die Welt, auf der Videowand wird Kennedy immer wieder erschossen. Vielleicht ist der dänische Zögling daran nicht schuld, doch als Inkarnation des Humanismus legitimiert er das Töten, das Sein oder Nicht-Sein, bis heute!
Diesen starken Impetus wählt Agora für ihre eindrucksvolle Hamlet-Paraphrase im fast übervollen T-Werk. Unmöglich, zu beschreiben, was da alles geschah, so reich an Impulsen, an Musik, Poesie, Symbolik, an Darstellungskunst, an Können und Wollen. „Wanted Hamlet“ braust mit den schönsten Liedern wie ein Sturm über die Bühne, wie ein Fegefeuer in die Zuschauer hinein. Wir sind Hamlet, wir sind Ophelia, Horatio, Polonius, heißt es in der hundertminütigen Inszenierung. Sie nimmt das totgeheiligte Stück auseinander, fragt nach seiner Gegenwart – der Wäscheberg bedeutet, dass hier die Last von Erbe und Erben zu waschen sei. Die Farbe ist weiß, die Stimmung düster, die Mittel reichen bis zur kitschigen Hasen- und Mickymaus-Maske, dazu HipHop und Country, Rock und Blues. Per Video der Kennedy-Mord immer wieder, fliegende tötende Waffen. Jenseits von Parodie und Oberflächlichkeit wurde Oldie Hamlet Kraft eingeflößt, bis zum Schmerz. Hier hat Theater endlich ernst gemacht mit sich selbst und als Spiel gezeigt, was möglich ist auf der Bühne der Wahrheit! Gerold Paul
Heute bei Unidram unter anderem um 20 Uhr „Die Dinge sind wie sie sind ...“ mit dem Théâtre du Mouvement im T-Werk
Gerold Paul
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