Kultur: Augen erhalten Möglichkeit eines neuen Verstehens
Eszter Salamon aus Ungarn zeigt heute bei den Tanztagen erneut das Stück NVSBL
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Eszter Salamon ist dafür bekannt, dass ihre Choreographien unsere Wahrnehmungen auf die Probe stellen und dem Zuschauer klar machen, dass er einen unfreien Blick hat. Wir sind Augentiere, durch das Fernsehen besetzte Bilderfresser, längst daran gewöhnt, in einer Sekunde 25 Schnitte zu erleben und das als ganz normal aufzufassen.
Eszter Salamon wird mit ihrer Compagnie heute Abend nochmals bei den Potsdamer Tanztagen in der fabrik auftreten. Sven Till, der künstlerische Leiter des Festivals, freut sich, die ungarische Choreographin für zwei Aufführungen in Potsdam gewonnen zu haben.
Unvoreingenommenheit des Blicks gibt es bei Salamon in ihren Tanztheaterstücken wohl nicht, sagt Sven Till. Es gehe um einen „kolonialistischen Blick“, den es zumindest für die Zeit der Vorführung zu entkolonialisieren gilt. Mal arbeite sie, wie in „Reproduction“, das sie für das Festival in Avignon entwarf, mit der Zeitraffung und dem Kamasutra, mal, wie in dem jetzt in Potsdam zu sehenden Stück mit dem unaussprechlichen und vieldeutigen Titel NVSBL, mit einer extremen Zeitdehnung. „Es ist merkwürdig, hier von Tanz zu sprechen, von Theater gar, denn scheinbar passiert nichts.“
Eszter Salamon, die in Budapest klassischen Tanz studierte, lange Zeit in Frankreich lebte und jetzt in Berlin residiert, gibt dem Zuschauer eine Nuss zu knacken. „Sie lenkt die Aufmerksamkeit auf das, was im Kopf und Gefühl des Publikums passiert, auf die innere Bühne der Erinnerung und des Erkennens“, sagt Sven Till. Schon der Titel lässt die Gedanken Purzelbäume schlagen, und die des Englischen mächtig sind, kommen bald auf die Idee, drei „I“s und ein „E“ einzufügen, so dass sie eine Bedeutung erhalten, die mit den fehlenden Vokalen spielt.
„Unsichtbar ist die Übersetzung von INVISIBLE, und so wie der Titel mit dem unsichtbaren Teil des Wortes spielt, so spielt die Choreographin wohl auch mit den Vorstellungen des Zuschauers während der Aufführung“, so Sven Till. Das dreifach fehlende I im Titel falle stärker auf, als wenn es anwesend wäre. „I heißt Ich und die phonetische Lautfolge ,Ai’ könnte auch Auge bedeuten. Da fehlt also das Auge, das erkennende Auge, und es fehlt das Ich, die Identität, die sich erst durch das innere Erkennen ergibt.“
Es geht in den Stücken der interessanten Herausforderin der Vorstellungskraft um die Bedeutung der Identität und der Geschlechter, um deren kulturell kodierte Darstellung, das Auftreten und Gesehenwerden. Nicht nur die sofortige verstehende Zuordnung dessen, was wir sehen, wird verweigert, sondern auch unsere übliche Zeiterfahrung verändert sich durch die Choreographie. Sven Till fühlte sich beim Sehen des Videos an den Film „Die große Stille“ erinnert, der durch das Weglassen der Sprache Zeit schenkt, und so würde auch Eszter Salamon Zeit schenken.
So lässt die Aufführung erwarten, dass dem Auge, das ja einmal für die Erkenntnis stand, eine Möglichkeit des neuen Verstehens eröffnet wird. Lore Bardens
2.6., 20.30 Uhr, fabrik
Lore Bardens
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