Von Almut Andreae: Augensterne
Japanische Lyrik im Galerieatelier Gosha
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„Beim Lesen von Büchern muss man äußerst sorgfältig vorgehen. Warum? Weil die Buchstaben, sobald sie gelesen wurden, einen Schwarm bilden und wegfliegen. Sie werden alle vom leeren Himmel aufgesogen und verschwinden für immer.“ Gedanken aus der Feder von Makoto Takayanagi über die Bibliothek einer imaginären Stadt, deren wirklich-unwirkliche Facetten er in kurzen Texten porträtiert. In seiner Heimat genießt der mehrfach mit Preisen geehrte Lyriker und Professor für Japanische Literatur an der Tamagawa-Universität Tokyo großes Ansehen. In Potsdam war Makoto Takayanagi am Dienstagabend in dem stimmungsreichen Ambiente des Galerieateliers von Gosha Nagasima-Soden und Graham Soden bei einer Lesung aus seiner soeben neu erschienenen Anthologie „Augensterne“ zu erleben.
Für viele der zahlreich erschienenen Gäste wird die in japanischer Sprache dargebotene Lesung eine gänzlich neue Erfahrung gewesen sein. Beim Hören eines literarischen Textes, dem man – des Japanischen nicht mächtig – inhaltlich nicht im Geringsten folgen kann, treten all jene Eigenschaften von Lyrik in den Vordergrund, die sich über das akustische Erleben mitteilen. Die japanische Dichtung, die keine Reime bildet, verdankt ihren Charme sehr stark dem Rhythmus ihres Sprachflusses. Und so war bei der Lesung von Makoto Takayanagi die uneingeschränkte Aufmerksamkeit der Zuhörer fast körperlich im Raum zu spüren. Die inhaltliche Auflösung der geheimnisvoll klingenden Worte wurde kenntnisreich und mit großer Sensibilität für das Original von der Übersetzerin Isolde Asai zu Gehör gebracht. Frau Asai, die 25 Jahre in Japan lebte, überträgt seit vielen Jahren die Dichtung Makoto Takayanagis und anderer japanischer Schriftsteller in die deutsche Sprache.
Immer wieder war im Laufe der einstündigen Lesung angesichts der vorgetragenen Übersetzung für reichlich Überraschung gesorgt. Denn wer rechnet damit, sich im Falle der von Takayanagi mit melodiöser Stimme vorgetragenen Dichtung „die Schwestern der Familie Stein“ mit folgender Situation konfrontiert zu sehen: „wer transkribiert die traurige Affinität zur Erzählung/ in die Harmonie der Schreibmaschine/Virginia? oder ist es Gertrude?/Alice beginnt, sich im Kreißsaal der Negativabzüge/umzuziehen“. Wie überhaupt die Exkurse dichterischer Phantasie in das erotische (Selbst)erleben der Schwestern in diesem Text einige andere exotische Blüten trieb. Getränkt vom schweren Duft anmutiger Lilien auf dem Lesepult mäanderten die für europäische Ohren eher wie Prosa anmutenden Gedichte Makoto Takayanagis bedeutungsschwanger durch den Raum. Die Poesie des 1950 in Nagoya geborenen Schriftstellers speist sich aus bizarren Bildern und einer stellenweise Absurditäten liebkosenden dichterischen Imagination.
Wie der Takayanagi im Publikumsgespräch nach der Lesung erläuterte, sind die in der traditionellen japanischen Literatur fest gezogenen Grenzen zwischen Lyrik und Prosa längst fließend geworden. Neben seinen fast an Kurzgeschichten erinnernden längeren Gedichten verlasen der Dichter und seine Übersetzerin Verse, die annähernd die Kürze und Prägnanz eines Haikus besitzen: „die Lippenbewegung des Stummen/Flamme/wiederholt sich langsam/und im Nu ist das Theater/vom Feuer umzingelt“.
Der als Ehrengast geladene Lyriker Günter Kunert blieb derweil aus gesundheitlichen Gründen der Veranstaltung fern. Dafür gab es mit zwei ganz neuen Gedichten Makoto Takayanagis, von Isolde Asai bereits übersetzt, im Original aber noch unveröffentlicht, zum Abschluss einen literarischen Überraschungs-Bonbon.
Almut Andreae
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