Kultur: Aus der Bibel der Cellomusik
Bach-Exegese von Natalja Gutman im Nikolaisaal
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Das Podium glich einem asketisch leeren Audienzsaal. Wie ein Thron sah er aus, der am Samstagabend einsam auf einem Resonanzkörper stehende Stuhl. Ein bequemes Sitzmöbel von geradezu biedermeierlichem Zuschnitt, in einen gelbwarmen Lichtkegel getaucht. Ein magischer Fixpunkt. Nichts, so ahnt man, soll und wird vom Einssein der Künstlerin mit der Musik von Johann Sebastian Bach ablenken. Und dann tritt sie auf: Natalja Gutman, legendäre Grande Dame und Hohepriesterin des Cellospiels und gerade siebzig geworden. Zielstrebig geht sie dem ihr gebührenden Herrschersitz entgegen.
Ein kurzes Zupfen an ihrer schwarzgrauen, weich fließenden Abendrobe hier, ein Suchen nach festem Halt für den Stachel ihres Instruments – dann beginnt sie gottesdienstgleich die Bibel der Cellomusik aufzuschlagen: Bachs Suiten für Violoncello. Glutvoll statt rational hält sie ihre „Predigt“. Aus dem sechsteiligen Kompendium BWV 1007-1012 hat sie nur die ersten vier Lektionen ausgewählt, die sie allerdings nicht in ihrer chronologischen Abfolge spielt, sondern nach Stimmungskontrasten zusammengestellt hat. Wollte sie dadurch den Eindruck vermeiden, dass die jeweils sechssätzigen, Stück um Stück länger und anspruchsvoller werdenden Suiten den Eindruck eines mathematisch beeinflussten Lehrwerkes erwecken könnten?!
Und so beginnt sie ihre Exegese mit der festlichen, weltzugewandten, von rhetorischem Schwung erfüllten C-Dur-Suite Nr. 3, deren einleitenden zweitaktigen Abstieg durch Tonleiter und Dreiklang sie mit überaus entschlossenem Bogenstrich vollzieht. Der Eindruck jähen Sturzes wirkt geradezu frappierend. Vollmundig, sonor und dunkelglühend klingt ihr Meisterinstrument, vibrierend vor innerer Spannung von der Meisterin zum Klingen gebracht. Sie verzichtet auf übermäßigen Vibratogebrauch, führt ihren modernen Bogen nach der Manier der Altvorderen. Flink fliegt er über die Saiten, weiß sie leicht zu streicheln, aber auch mit nachdrücklicher Energie für spannende Momente zu sorgen. Kurzum: Die Gutmann versteht es auf unnachahmliche Art, technisches Superkönnen in hinreißende Ausdrucksintensität zu verwandeln.
Und so gehen ihr die sich unmerklich verändernden Repetitionen, die an eine Frühform der Minimal Music erinnern, locker aus dem Handgelenk. Feinste dynamische Rückungen profitieren ebenfalls davon. Nervig gespannt ist ihre Rhetorik in der d-Moll-Suite Nr. 2, mit der sie dem introvertierten, grüblerischen und weltabgewandten Grundton auf der Spur ist, ihn geradezu zelebriert. Dabei lässt ihre regungslose Miene erahnen, sie sei total dem Irdischen entrückt, um solche himmlischen Töne hervorzaubern zu können. Aus einer eigentlich banalen Tonfolge lässt sie in der G-Dur-Suite Nr. 1 einen Mikrokosmos der Empfindungen auf natürlichste Weise entstehen.
Mühelos gelingen ihr die Lagenwechsel auch in der Es-Dur-Suite Nr. 4, deren komplexer Klangmaterie sie drängend und gelassen, mit herzerfrischender Altersweisheit nachspürt. Kenner und Liebhaber liegen der Gutman nach ihrem musikalischen Gottesdienst gleichsam zu Füßen und huldigen ihr nach allen Regeln der Beifallskunst. Peter Buske
Peter Buske
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