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Kultur: „Aus Interesse am Menschen“

Klaus Stanjek über den Babelsberger Dokfilm

Stand:

Herr Stanjek, in Ihrem Buch „Die Babelsberger Schule des Dokumentarfilms“ sprechen Sie davon, dass die in Babelsberg produzierten Dokumentarfilme eine ganz bestimmte Charakteristik aufweisen. Worin besteht die?

Es ist die Schule des Beobachtens. Sie hat sich seit den 60er Jahren herausgebildet und besteht bis heute. Insofern gibt es keine Defa-Schule des Dokumentarfilms, denn sie hat die Defa überlebt.

Wie wird das deutlich?

Wenn man auf die heutigen Filme aus Babelsberg schaut. Zum Beispiel auf den HFF-Film „Nach Wriezen“, eine Drei-Jahres-Studie, die bis Freitag auf der Dokfilmwoche in Leipzig läuft und danach auch im Potsdamer Filmmuseum gezeigt wird. Der Film steht ganz in dieser Tradition und erzählt die Geschichte von drei jungen Männern, die wegen verschiedener Untaten im Gefängnis saßen und nun auf der Suche nach einem neuen Leben in Freiheit sind. Der eine findet einen väterlichen Freund und schafft es draußen, der andere landet als Drogendealer wieder im Knast.

Mit dabei ist auch einer der Mörder von Potzlow, die den 16-jährigen Marinus 2002 in einer Schweinemastanlage brutal umgebracht haben.

Ja, Regiestudent Daniel Abma begleitete auch ihn mit einem bestimmten Wohlwollen. Er will zeigen: Diese Männer sind nicht nur Biester, sondern auch Menschen. Sein Film knüpft vollständig an die Methode der Babelsberger Schule an.

Wie entwickelte sich diese Methode?

Das Entscheidende ist die Ausbildungsweise an der HFF, die im ersten Studienjahr den Schwerpunkt auf den Dokumentarfilm legt, auf die Zusammenarbeit zwischen Regie und Kamera und die die Kultur des Beobachtens unterstützt. Auch die Ausbildung der Dokumentarfilmer gemeinsam mit den Spielfilmleuten stärkt das Prinzip des Erzählens. Das war nie Programm, hat sich aber organisch aus der Praxis heraus entwickelt.

Wie sieht dieses Beobachten aus?

Es ist vor allem dieser wohlwollende Blick auf den Menschen, nie von oben herab, ein humanistischer Blick, ein unverstellter Blick auf den Einzelnen

Und der entwickelte sich in den 60ern?

In den 50ern gab es noch Typen, wie den Held der Arbeit, nicht die individuelle Sicht. Ab den 60ern wurde auf persönliche Eigenheiten geschaut, ohne Spott und Häme, einfach aus dem Interesse am Menschen.

Warum gerade hier im Osten?

Sicher aus dem Überdruss heraus, dass man das sozialistische Gesellschaftssystem ständig verteidigen und mit verbreiten sollte.

Also eine leise Opposition?

Ja, die Filmemacher haben sich unmerklich vom gesellschaftlichen Auftrag entfernt. Es war eine behutsame Opposition, wenn man eben auf den Koch, die Wäscherin, die Frau, die anders leben wollte, schaute.

Und wie sah es im Westen aus?

In München, wo ich lange lebte, beschäftigten sich die Dokumentarfilmer mit bestimmten Themen. Da ging es um den Müll, den die Industrie produzierte, oder um die Abholzung des Regenwaldes.

Diese beobachtende Richtung gab es nicht?

Vereinzelt schon, auch durch Kontakte auf der Dokfilm-Woche in Leipzig.

Bislang wurde nie explizit von einer Babelsberger Schule gesprochen.

Diese genaue Eingrenzung gab es zu Defa-Zeiten auch nicht, denn es gab auch keine Filmwissenschaft, die sich eng mit den Regisseuren verbrüdert hatte.

Diese Schule des Beobachtens überdauert also die Gesellschaftssysteme?

Ja, und trotzdem wurde dieser Platz bei „100 Jahre Film in Babelsberg“ missachtet.

Deshalb nun Ihre Nachwäsche?

Man muss halt begründen, was diese Schule ausmacht. Das habe ich gemeinsam mit den Regisseuren Günter Jordan und Marie Wilke getan.

Das Gespräch führte Heidi Jäger

Buchpremiere und Filmvorführung „Nach Wriezen“ am Dienstag, 6. November, 18 Uhr, Filmmuseum

Klaus Stanjek,

1948 in Wuppertal

geboren, ist seit 1993 Professor für Dokumentarregie an der Hochschule für Film und Fernsehen

„Konrad Wolf“ in

Babelsberg (HFF).

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