Kultur: Ausgewählt zur „Disposition“
16. Hermannswerderaner Abend: Die Schriftstellerin Helga Schubert las aus „Die Welt da drinnen“
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16. Hermannswerderaner Abend: Die Schriftstellerin Helga Schubert las aus „Die Welt da drinnen“ Die Schriftstellerin Helga Schubert war Gast des 16. Hermannswerderaner Abends im Evangelischen Gymnasiums. Sie las aus ihrem erschütternden Buch „Die Welt da drinnen“, erschienen 2003 im Fischer Taschenbuch Verlag. Anfang 1941 klingelt im Ev. luth. Pfarramt zu Höfgen bei Grimma das Telefon. Eine aufgeregte Stimme verlangt den Pfarrer zu sprechen: „Lieber Amtsbruder, bitte holen Sie so schnell wie möglich Ihren Bruder zu sich nach Hause. Wir können hier in Bethel nicht mehr für seine Sicherheit garantieren!“ Um diese Zeit haben die Verantwortlichen der Bodelschwingh“schen Anstalten bei Bielefeld längst begriffen, dass gegen den Führerbefehl vom 1. September 1939, „unwertes Leben sei im Interesse der Gesundung des deutschen Volkskörpers", ab sofort zu eliminieren, nichts mehr zu machen ist. Zur „Disposition" steht seitdem in ganz Großdeutschland das Leben von Blinden, Tauben und Schwachsinnigen, es sei denn, sie erfüllen noch „Mindeststandards von Lebensberechtigung“, die da wären Mobilität, Familienbindung oder Nutzen für die Volkswirtschaft. Da hat es eine Taubblinde, die im Babelsberger Oberlinhaus um diese fatale Zeit wärmende Socken fürs „Winterhilfswerk“ strickt, „noch gut“. Andere dagegen, die der Vollzeitpflege bedürfen, haben keine Chance mehr. Sie werden „verschickt“, zum Beispiel nach Schwerin, in die Nervenklinik „Am Sachsenberg“. Die gibt es noch heute dort, wenn auch unter anderem Namen und unter anderer Leitung. Doch noch heute scheut man dort diese entsetzliche Wahrheit. Und eine nachfragende, sich nicht abwimmeln lassende Helga Schubert, Jahrgang 1940, wird selbst Ende der 90er Jahre in dieser Ecke Mecklenburg-Vorpommerns fast zur „Persona non grata“ erklärt. Mit dieser „Vergangenheit“ wolle man heute nichts mehr zu tun haben, das könne ja Patienten abschrecken, schließlich befinde man sich in der Marktwirtschaft, und da gehöre dies alles der Vergangenheit an ... Helga Schubert aber lässt sich nicht abwimmeln. Sie entdeckt Schreckliches und thematisiert es. Mindestens 100 000 Menschen sind von 1939 bis1945 der „Euthanasie“ zum Opfer gefallen. Alllein drei Anstalten in Ostdeutschland haben diesen Massenmord „besorgt“ : in Schwerin, in Bernburg und in Pirna-Sonnenstein. In letztgenannter Einrichtung verliert sich auch die Spur von Hans M., dem Bruders des genannten Pfarrers ... Fast fünfzig Jahre lang erfuhr man, so man es wollte, etwas über die Täter, über die willfährigen Ärzte, das nazitreue Pflegepersonal. Die Opferakten dagegen, zumeist in akribischem Sütterlin verfasst und als Patientendatei alle Kleinigkeiten festhaltend, blieben verschlossen. Weil sie auf ostdeutschem Boden ruhten und in die Verwahrung des Ministeriums für Staatssicherheit geraten waren und demzufolge unter Verschluss blieben. Bis 1989. Nach der bürgerbewegten „Erstürmung“ der Normannenstraße im Januar 1990 endlich kam dieser Fundus ins Bundesarchiv. Hier, genau hier, fing Helga Schubert an zu lesen. Wochenlang. Das hat sie fast krank gemacht an Leib und Seele. Und befreit. Denn ihr politisches Buch, wie sie ausdrücklich hervorhebt, „Die Welt da drinnen“, konnte nur in einer „offenen Gesellschaft" publiziert werden, einer Gesellschaft, die frei ist von diktatorischen Zwängen, wo eine Öffentlichkeit dafür sorgt und sorgen wird, dass, so Helga Schubert, „nicht demnächst die Blauäugigen oder die Inhaber von Schuhgröße 42 selektiert werden“. Minutenlanges, betroffenes Schweigen im Gymnasium. Andreas Flämig
Andreas Flämig
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