Kultur: Außer Kontrolle
Die Polkaraupe Polkaholix rockte das Waschhaus
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Ein bisschen schlagerhaft war das schon. Und eine allzu deutliche Aufforderung zum Hüftschwung – die siebenköpfige Polkaraupe Polkaholix wusste nur zu genau, dass am Samstagabend mit einer bierseligen Oktoberfestromantik kokettiert wurde, und man kann der Band kaum einen Vorwurf machen, wenn das Publikum selig schunkelte und im Takt in die Hände klatschte.
Die Polka im traditionellen Zweivierteltakt, die irgendwann mal in Böhmen entstand und sich als herausragender Soundtrack zu Sauerkraut und Bier entpuppte, feiert entweder eine Renaissance oder ist einfach nicht totzukriegen. So genau weiß man das nicht. Dass ausgerechnet die Nordeuropäer diese böhmische Stilrichtung aufnahmen und mit Bands wie den Finnen „Eläkeläiset“ – was ja witzigerweise „Die Rentner“ bedeutet – der Polka ihren sogenannten „Humppa“-Stempel aufdrückten, öffnete auch den Polkarhythmen Tür und Tor in die Popkultur. Nun muss Polka nicht zwangsläufig nur Schlager sein, aber mit Refrains wie „Mustafa, lass doch des Sultans Tochter gehen“ blieb einem Samstagnacht kaum etwas anderes übrig, als kopfschüttelnd den Text auszublenden.
Seltsamerweise war dieses musikalische Vergnügen derart tanzbar, dass man unbewusst sofort in die böhmische Bierseligkeit katapultiert wurde. Ruhig stehen bleiben? Keine Chance! Die Kraftwerk-Adaption von „Das Model“ zu einem Balkan-Beat-Rhythmus war mehr als tanzbar. Doch was für ein ungewohnter Altersdurchschnitt hatte sich denn da ins Waschhaus verirrt? Menschen im Rentenalter mit strahlenden Gesichtern waren zu sehen, die lieber am Rand des Spektakels auf Stühlen Platz nahmen, flankiert von der jüngeren Generation, die noch ausdauernd Tanzen konnte. Ein bisschen irre war das schon.
Normalerweise wäre jetzt der Zeitpunkt gekommen, um an den schlechten deutschen Texten herumzunörgeln, aber bei so einer generationsübergreifenden Integration sparen wir uns das. Hier ging es eindeutig um die Musik, Trompete, Akkordeon, Saxofon und Posaune schaukelten von links nach rechts, der Kontrabassist kletterte auch mal auf sein Instrument und wenn der Sänger im geschmacklos-schrillen Hemd, was sicherlich beabsichtigt war, von seiner Vorliebe für Spareribs sang, konnte man sich diesen Quatsch verblüffend einfach hüftschwingend mit einem Bier herunterspülen. Von Ernsthaftigkeit war bei dieser Ausgelassenheit gar nichts mehr zu spüren: „Man muss sich einfach hingeben, dann macht das echt Spaß!“, ermunterte der Sänger – und hatte einfach nur verdammt recht damit.
Direkt proportional mit dem Bierkonsum entwickelte sich eine Partystimmung, bei der man froh sein konnte, dass sich keine Tische im Waschhaus befanden – sonst hätten darauf bestimmt einige getanzt. Und die Polkaholix legten auch richtig los: Die Rammstein-Coverversion von „Engel“ brachte sogar Großväter zum Mitwippen, ein Konglomerat von böhmischer Gemütlichkeit und Offbeats à la Seeed. Whams „Last Christmas“ kurz darauf wirkte so herrlich deplatziert, dass einem nichts anderes übrig blieb, als bis zu den Ohren zu grinsen.
Um dem Ausbruch noch mehr Form und Farbe zu geben, wurde auch mal schnell die Maultrommel eingesetzt, hilft ja auch nichts, außer Kontrolle waren ohnehin schon alle. Und als kurz vor Mitternacht der letzte Song „Die Nacht ist nicht allein zum Schlafen da“ ertönte, fühlte man sich erst recht angezündet. Seltsam, was Polka mit einem so alles anstellen kann. Oliver Dietrich
Oliver Dietrich
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